Seidentanz
unvermeidlich. «
Sein Blick, leicht hin und her schwankend, verlor sich ins Leere. Es war, als ob er in sich hineinhorchte. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn.
»Dazu kommt, daß ich am Monatsende das Studio verlassen muß. Sie hat es mir gesagt, bevor sie nach Tokio ging.«
Ein Seufzer hob seine Brust. Er antwortete, geistesabwesend:
»Ich denke, sie wird bald von sich hören lassen…«
39. Kapitel
H atten wir schlaflos dagelegen, oder wurden wir geweckt aus Träumen, die von uns fortglitten? Die Klimaanlage summte. Es war dunkel im Raum; nur die Straßenbeleuchtung warf bläuliches Licht in das Zimmer. Das Telefon klingelte. Ich richtete mich auf, warf einen Blick auf die Leuchtziffern der Uhr. Viertel nach eins. Benommen streckte ich den Arm aus, griff nach dem Hörer.
Eine Stimme. Naomi. Ich war sofort hellwach. Erst zwei Ta-ge war es her, daß ich mit Daisuke über sie gesprochen hatte.
Wie merkwürdig, dachte ich. Als ob er es vorausgesehen hätte.
»Naomi! Wo bist du denn?«
Ihre Stimme klang tonlos, wie erstickt.
»Draußen. Es ist warm hier in Tokio. Ich hatte einen schweren Tag. Ich kann nicht schlafen… «
Kunio stieß leise die Luft aus; er hatte um seinen Vater ge-fürchtet. Ich nickte ihm beruhigend zu. Er stand auf, ging in die Küche. Ich hörte, wie er den Eisschrank öffnete.
»Bist du allein?« fragte Naomi.
»Nein.«
»Es tut mir leid«, sagte sie.
»Das macht nichts. Wie geht es dir?«
»Ach, eigentlich ganz gut.« Sie antwortete überstürzt, mit einer Art künstlicher Fröhlichkeit. »Meine Agentin hat angerufen. Im März tanze ich in Deutschland. Düsseldorf, Berlin und Leipzig. Die Verträge sind schon da. Anschließend werde ich Workshops geben. Viele Leute, die meine Aufführungen sehen, nehmen an den Workshops teil.«
Das war nicht ihre Art zu sprechen. Wie unecht klang das, wie grauenvoll gekünstelt! Als ob sie einen Werbetext herun-terlas.
»Und Keita?«
Schweigen. Im Hintergrund rumpelten undefinierbare Geräusche. Ich rief:
»Bist du noch da?«
Sie antwortete mit flacher, abwesender Stimme:
»Ich habe dich nicht verstanden. Was hast du gefragt?«
»Was mit Keita ist.«
Wieder Schweigen. Dann:
»Es geht ihm nicht sehr gut, nein.«
»Schlimm?«
»Er neigte schon immer dazu, sich selbst zu zerstören…«
sagte sie tonlos.
Bei ihr, dachte ich, ist alles wie in Tücher eingewickelt. Ich tastete mich von außen heran, um zu erfühlen, was wohl darin stecken könnte. Aber das Geheimnis blieb.
»Und dein Sohn?«
»Seiji? Wir haben miteinander telefoniert, gestern, nein, vor-gestern abend. Aber ich habe ihm nicht gesagt, daß sein Vater krank ist. Ich muß vorsichtig mit ihm umgehen, ne? Ich fahre lieber nach Kobe und rede mit ihm. Auf der Durchreise besuche ich dich.«
»Du mußt die Sache mit dem Studio regeln.«
»Was ist mit dem Studio?«
»Der Mietvertrag wird fällig.«
»Ach ja, natürlich! Gomennasai! Das hatte ich ganz vergessen… «
Aus der Ferne klang Rockmusik. Ein Betrunkener grölte. Sie rief aus einer Disco an. Oder aus einer Bahnhofshalle. Aber die Züge fuhren nur bis eins.
»Wann kommst du?« fragte ich.
»Ich weiß es noch nicht. In den nächsten Tagen.«
»Sag mir, wenn du ankommst. Ich hole dich ab.«
»Nicht nötig. Ich habe nur meinen Rucksack.«
Als ich den Hörer auflegte, trat Kunio mit einem Glas Kornbier aus der Küche. Er reichte mir das Glas und setzte sich neben mich. Ich trank, wischte mir mit dem Handrücken über den Mund.
»Ich bin etwas beunruhigt. Sie treibt sich auf irgendeinem Bahnhof herum. Um diese Zeit!«
»Was hat sie dir gesagt?«
»Nicht viel. Sie ist ziemlich wortkarg, weißt du. Ihr Mann ist krank. Er soll ein phantastischer Tänzer gewesen sein. Jetzt steckt er in einer schweren Krise. Naomi will zu ihrem Sohn fahren, der in Kobe bei der Großmutter lebt. Er ist vierzehn.
Offenbar macht er Schwierigkeiten.«
»In diesem Alter ist man uneinsichtig.«
»Ja. Dazu kommt, daß sie raus aus dem Studio muß.«
»Und was wird aus dir?«
Ich lächelte.
»Hast du einen Vorschlag?«
Er strich mit dem Finger über meinen Rücken.
»Komm zu mir nach Nara. Platz ist genug. Und mit dem Wagen bist du in einer halben Stunde in Kyoto.«
»Vorläufig brauche ich einen Chauffeur. Hier wird links gefahren. Die Verkehrstafeln kann ich auch noch nicht lesen.«
»Ich stehe dir zur Verfügung.«
»Das weiß ich zu schätzen. Aber bei Stoßzeiten fahre ich lieber mit dem Zug.«
Er umschlang mich, mit
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