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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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ihr Gesicht die Spuren ihres wirklichen Alters. Ihre Haut wirkte fahl und zerknittert, die Augen wie erloschen.
    »Müde?« fragte ich.
    »Atsui… warm! « stöhnte sie.
    Ich half ihr, ihren Rucksack in den Eingang zu zerren. Die Tür schloß sich hinter ihr.
    »Ich mache Tee«, sagte ich. »Möchtest du eine Dusche nehmen?« Sie nickte, zog die zerknitterte Bluse aus dem Gürtel, ließ die Jeans über ihre Hüften gleiten. Achtlos stieg sie aus den Kleidern; sie trug einen winzigen Slip aus Baumwolle, den sie ebenfalls über die Schenkel rollte. Ihre helle, knabenhafte Gestalt dehnte sich mit wohligen Seufzern, bevor sie im Badezimmer verschwand. Während ich das Teewasser aufsetzte, hörte ich die Dusche laufen. Ein paar Minuten später war Naomi wieder da, das nasse, kastanienbraune Haar klebte auf ihrem Rücken. Sie war in ein großes Handtuch eingewickelt, so daß ihre schmalen Schultern und die Beine nackt blieben. Sie hatte lange, kindliche Beine, mit straffen Schenkeln und spitzen Knien, doch geschmeidig. Ich brachte die Teekanne, dazu zwei Becher, und stellte sie auf den Tisch. Sie kniete auf den Kissen nieder. Unsere Augen trafen sich. Eine Spur von Verwirrung zuckte um ihren Mund.
    »Es tut mir leid. Ich hätte nicht so spät anrufen sollen.«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Nein, im Gegenteil. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
    Sie wühlte in ihren Sachen, brachte ein Päckchen Zigaretten zum Vorschein.
    »Das brauchtest du nicht. Ich probe gerade ein neues Stück: Yamato-Takeru. «
    Ich trank meinen Tee, ohne sie aus den Augen zu lassen.
    »Schwierig?«
    »Ja, ziemlich.«
    Sie zündete eine Zigarette an und erzählte. Yamato Takeru war Sohn des Kaisers Keikô, sein Name bedeutete »Edler Japans«. Schon als Fünfzehnjähriger war der Jüngling für seine Kraft und seinen Wagemut bekannt. Als sich die Stämme der Bärenanbeter gegen seinen Vater auflehnten, verkleidete er sich als Tänzerin und verschaffte sich Eintritt in ihre Burg. Die Stammesanführer feierten gerade ein Fest. Yamato Takeru tanzte für sie. Die Häuptlinge waren bezaubert und baten die vermeintliche junge Frau an ihre Tafel. Als alle Feinde betrunken waren, zückte der Prinz einen Degen und brachte sie um.
    Das starke Motiv der Ambivalenz faszinierte Naomi. Natürlich mußte sie als Solistin das Thema abgrenzen.
    »Yamato Takeru verbringt die Nacht betend im Heiligtum von Ise. Doch er schläft ein. In einem Wachtraum schlüpft er in das vorbereitete Mädchengewand und erfindet den Tanz, mit dem er seine Feinde verführen wird.«
    Ich schob ihr den Aschenbecher über den Tisch. Sie war immer sehr schlank gewesen, jetzt wirkte sie zerbrechlich. Die Abmagerung enthüllte die Besonderheit ihres Gesichtes, das Ebenmaß der Knochen, so fein geformt, daß sie den Wunsch erweckten, dieses Gesicht in die Hände zu nehmen und es zu betrachten, wie ein Kunstwerk. Ich fragte:
    »Hast du die Inszenierung gestaltet?«
    Sie schlug die Augen nieder.
    »Alle Elemente stammen von Keita. Er hat den ganzen Tanz von vornherein visuell programmiert. Eigentlich wollte er die Rolle tanzen. Aber er kam nicht dazu…«
    Ihre Lippen waren plötzlich weiß geworden.
    »Er ist wahnsinnig, Ruth. Er ist voll im Besitz seiner physi-schen Kräfte, aber an Geist und Seele krank. Und das Furchtbare ist, daß man ihm seine Krankheit nicht ansieht. Er ist glatt und schön, wie er immer war, ein wunderbarer Körper, ein Gesicht wie ein Erzengel. Und doch ist er ein zerstörter Mensch. Er tanzt immer noch großartig, ja. Jeder Zuschauer würde sich täuschen lassen – aber nicht länger als fünf Minuten. Dann würde er ausfällig werden, sich splitternackt ausziehen, masturbieren… «
    Sie drückte die Zigarette aus, zündete sich eine neue an. Ihre dünnen Hände zitterten. Ich starrte auf ihre roten Nägel und fühlte, wie mir der kalte Schweiß ausbrach. Naomi sprach weiter:
    »In seinem Atelier sind alle Wände – sogar die Decke – mit Farben verschmiert. Es stinkt nach Whisky, Erbrochenem und Kot. Er verrichtet seine Notdurft auf der Matte und malt mit seinem Kot. Er sagt, er mache Bühnenbilder. Das Material, mit dem er arbeite, sei sein eigener Körper. Er kann stundenlang reden, es hört sich völlig vernünftig an und ist der größte Nonsens. Er redet von dem Lebendigsein der Muskeln, von der Beziehung des Tänzers zur Gravitation, von kosmischen Schwingungen, von solchen und ähnlichen Dingen. Er sagt, er sei die Wiedergeburt von Anita Berber, der

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