Seidentanz
meine Großmutter in Kobe bestattet war, und daß ich sie zum ersten Mal auf dem Friedhof besuchen würde. Das interessierte die alte Dame. Ich erzählte ihr kurz die Geschichte, zeigte ihr die Goldkette mit dem Medaillon. Keiko holte die Brille, um das Blumenmotiv auf dem Anhänger näher zu betrachten. Sie war wie verwandelt, stieß Laute der Überraschung und des Mitgefühls aus. Die Empfindungen, die sich auf ihrem Gesicht spiegelten, waren so stark, daß ich in den abgezehrten Zügen die Spontanität des Mädchens erkannte, das sie einst gewesen war – und die Ähnlichkeit mit Naomi wurde plötzlich unverkennbar.
Naomi selbst beteiligte sich wenig an der Unterhaltung. Ihr Ausdruck war herb und abwesend, ein Zeichen, daß sie unruhig war. Ich wußte, sie wartete auf Seiji, und die bevorstehende Begegnung mit ihrem Sohn bereitete ihr offenbar Sorgen. Vielleicht sollten wir uns lieber verabschieden, dachte ich, und merkte an Kunios Blick, daß er der gleichen Meinung war.
Gerade schickten wir uns an zu gehen, als Schritte durch den Garten stapften. Die Tür wurde aufgestoßen.
»Tadaima – ich bin zurück«, brummte eine mürrische Stimme.
»Okaerinasai!« Keiko rief heiter die übliche Willkommens-formel. »Komm schnell, Sei-chan, deine Mutter ist da!«
»Das weiß ich schon längst.«
Die Stimme des Jungen hatte bereits die Tiefe eines Mannes, der er noch nicht war. Im Gegenlicht schien er hochgewachsen und schlaksig. Als er die Tür zuwarf, sahen wir ihn deutlicher.
Ich hörte, wie Naomi kurz und heftig die Luft einsog. Dieser Junge war fast mädchenhaft geschmeidig, mit den langen Muskeln der neuen Generation. Die Haut war olivfarbig das Profil war flach, der sinnliche Mund war verächtlich gekrümmt. Eine rot gefärbte Haarsträhne fiel ihm in die Stirn. Er trug hautenge Jeans, eine schwarze Lederjacke und Schaftstiefel, die er noch nicht ausgezogen hatte. Ein bildhübscher Halbwüchsiger, lau-nisch, verwöhnt und offenbar stark verhaltensgestört.
»Setz dich zu uns, Sei-chan!« rief Keiko mit gekünstelter Fröhlichkeit. »Trinkst du Kaffee oder lieber eine Cola?«
Doch der Junge machte keine Anstalten zu kommen. Er legte sich auf den Rücken, sein Oberkörper ruhte auf der Matte, während er seine Beine auf den Steinfußboden im Eingang baumeln ließ.
Naomi hatte sich nicht gerührt; sie betrachtete ihn, streng und ruhig, den Kopf hoch aufgerichtet.
»Die Schule ist um halb vier aus«, sagte sie. »Warum hast du so getrödelt?«
Er starrte zur Decke.
»Habe den Zug verpaßt.«
»Wie war’s denn im Unterricht?«
»Es geht. Ganz normal.«
»Bist du nicht froh, daß die Mutter gekommen ist?« fragte Keiko.
Schweigen. Naomi zündete sich eine Zigarette an.
»Nun?« sagte die alte Dame, mit etwas zitternder Stimme.
»Von mir aus«, knurrte Seiji. Er stieg aus den Stiefeln, die auf den Boden polterten, richtete sich auf und schüttelte sein Haar aus der Stirn. Kunio und mich ins Auge fassend, deutete er etwas verwirrt einen Gruß an. Dann stapfte er mit schweren Schritten am Wohnzimmer vorbei und trampelte die Treppe hinauf. Das Haus war so leicht gebaut, daß die Wände zitterten.
»Sei-chan, willst du nicht mit deiner Mutter reden?« rief Keiko hinter ihm her.
»… Baseball-Meisterschaft um fünf«, tönte die Antwort von oben.
Die alte Dame lachte verlegen und seufzte im gleichen Atemzug.
»Ich nenne ihn ›das Gespenst in der ersten Etage‹ weil ich ihn oft stundenlang nicht höre. Ach, ich habe es schwer mit diesem Jungen, das muß ich schon sagen. «
Naomi rauchte mit ausdruckslosem Gesicht.
»Und die Schularbeiten?«
»Also, die macht er irgendwie. Weißt du, was er am liebsten hat? Physik! Und er versteht was davon. Er liegt vor dem Fernseher, ich denke, er sieht sich eine Sendung an. In Wirklichkeit will er nur seine Ruhe haben.«
Naomi nickte kühl.
»Die werde ich ihm lassen.«
»Er sieht aus, als wäre er zwanzig, ne?« seufzte Keiko. »Er wird vierzehn, er ist ja noch ein Kind. Man darf ihm nichts aufzwingen. «
Beim Abschied sagte die alte Dame zu uns:
»Bitte, warten Sie einen Augenblick.«
Wir hörten, wie sie im Nebenzimmer ein paar Schubladen aufzog. Nach einer Weile kam sie zurück mit einer Stoffrolle, die sie vor uns ausbreitete: es war eine ihrer Batikarbeiten, violettblau auf weißem Grund. Das hineingedruckte Muster war urtümlich und wild; kein sichtbares Bild, eher eine Kaskade von Blättern und Blüten, mit dem Leinen wie verwachsen.
»Ich bin
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