Seidentanz
Der Friedhof schloß um sechs. Wir machten uns langsam auf den Weg. Der Himmel leuchtete wie ein Sa-phir, und die Gräber lagen schon im Schatten. Wir gaben dem Wächter eine Spende für die Friedhofspflege. Der alte Mann verbeugte sich; sein Gesicht sah sanft und müde aus, und ebenso blaß wie sein kahler Schädel.
»Jetzt ist es hier oben sehr ruhig«, meinte er. »Aber im Frühling kommen viele Besucher. Touristen aus aller Welt, aber auch Japaner. Ja, vielleicht sollten Sie im Frühling wiederkommen. Da bleibt es länger hell, und die Gräber sind mit frischen Blumen geschmückt.«
»Vielen Dank«, sagte ich. »Vielleicht machen wir das sogar.«
45. Kapitel
I ch zog mit zwei Taschen und einem Rucksack in Kunios Wohnung ein. Ich war keine Frau, die sich breitmachte. Ich lebte anspruchslos; an meiner Daseinsweise änderte das im Augenblick nichts. Meine Welt setzte sich aus Bruchstücken zusammen, zwischen Ordnung und Unordnung lose geheftet.
Ich war von der Realität abgeschnitten – besser gesagt, sie hatte mich nie besonders interessiert. Nichts faszinierte mich wirklich – außer den Kulissen, der Bühne, dem Zuschauerraum und dem Applaus am Ende. Kunio war auch nicht der erste Mann, bei dem ich wohnte. Ich hatte eine gewisse Übung; aber diesmal waren die Dinge anders. Mein Denken wurde in neue Bahnen gelenkt; merkwürdige Empfindungen machten mein Herz weich und schwer.
Vor Kunios Tür ließ ich meine staubigen Sandalen stehen, trat mit bloßen Füßen auf die Matte, die nach Gräsern duftete.
Ich flüsterte: »Da bin ich«, und schon legte er beide Arme um mich. Wir würden niemals die Einsamkeit fürchten, nicht den Schmerz, auch nicht den Tod, denn so denken alle Liebenden, obwohl dies alles nur Illusion ist. Die Sonne würde in unserer Dunkelheit scheinen, die Früchte für uns reifen und die Blumen für uns blühen, weil wir unser Paradies in die Welt brachten. In der Liebe entsteht diese Diskrepanz; sie ist sehr verlockend.
Die Konfrontation zur bestehenden Wirklichkeit ergibt sich zwangsläufig. Vielleicht aber würde unsere Liebe, die mit der Hingabe des Körpers begann, in uns zähe Wurzeln pflanzen.
Ich, die ich auf vieles gefaßt war, beobachtete dieses Wachsen etwas ungläubig und mit großer Neugierde.
Ein paar Tage später rief ich bei Chiyo Sakamoto an. Ich nannte meinen Namen und bezog mich auf unsere Begegnung im Onjôkan. Ich war darauf gefaßt, daß sie mich vergessen hatte, doch sie wußte sofort, wer ich war.
»Ruth Cohen? Ja, natürlich! Sie haben den Kindern ein Seil-spiel aus Israel gezeigt. Ich habe oft an Sie gedacht und gehofft, daß Sie sich melden würden.«
Wir machten ein Treffen in ihrem Büro ab. Ich freute mich, die kleine, ruhige Straße zu sehen, das weißgetünchte Haus.
Klavierspiel durchflutete die Räume, helle Kinderstimmen übten die Tonleiter. Eine junge Frau führte mich in die erste Etage. Das Büro war klein, die Möbel schlicht, aber formvoll-kommen. Mein Blick fiel auf ein Ölgemälde, das eine Frauen-gestalt aus dem Nô-Spiel darstellte. Ein dunkelblaues Gewand umwehte sie wie eine starke, sich kräuselnde Welle. Unter einem goldenen Kopfputz in Form eines Kranichs zeigte die Maske ein leichtes, verführerisches Lächeln. Frau Sakamoto trat ein, während ich das Bild versunken betrachtete. Wir verbeugten uns; ich verharrte einen Atemzug länger, mit gesenktem Kopf. Mir war, als ob Frau Sakamoto es mit versteckter Belustigung zur Kenntnis nahm. Doch als ich mich aufrichtete, wanderten meine Augen sofort zu dem Gemälde zurück. Sie bemerkte es und lächelte.
»Gefällt Ihnen das Bild?«
»Es ist wunderschön«, sagte ich.
»Ein Freund von mir hat es gemalt. Es stellt die Himmelsfee aus dem Nô-Spiel Hagoromo – das Federkleid – dar. Die Fee hat beim Baden ihr Federkleid an eine Kiefer gehängt. Ein Fischer findet es und freut sich, weil er einen Schatz gefunden hat. Doch ohne Federkleid ist der Fee die Rückkehr in die himmlischen Gefilde verwehrt. Ihre Tränen rühren den Fischer, der ihr das Kleid zurückgibt. Aus Dankbarkeit tanzt sie für ihn den heiligen Reigen, der das Universum in Bewegung hält. «
Lächelnd zitierte sie:
»Den Tanz werde ich tanzen, der den Palast des Mondes kreisen läßt, den Palast, mit einem Beil aus Jade, für ewige Zeiten erbaut…«
Mit eleganter Geste bot sie mir einen Stuhl an. In ihrem dun-kelblauen Kostüm und der Bluse mit der damenhaften Schleife wirkte sie sehr förmlich. Es war keine falsche Wahl;
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