Seidentanz
begriffen.
Die alten Häuser aus Holz und Kunststoff, mit Mattscheiben an den Fenstern, wurden abgebrochen, durch moderne Einfamilienhäuser ersetzt. Man hatte begonnen, die Elektrizitätsmasten mit ihren zentnerschweren Transformatoren und Stromkabeln zu entfernen, so daß die Straßen breiter und luftiger wirkten.
Alle Grundstücke waren klein, zumeist viereckig, mit winzigen Gärten versehen. Naomis Mutter lebte in einem Holzhaus oberhalb einer schmalen Steintreppe. Die Häusergruppe wurde von den hohen Pfeilern der Autobahn überragt, aber nach Süden hin gab es eine schöne Aussicht über den Hafen. Ein kleines Tor führte zu einem Garten mit einer Hecke aus Buchsbäumchen.
Dutzende von Topfpflanzen, alle kräftig und grün und liebevoll gepflegt, säumten die Trittsteine zur Tür.
Naomis Mutter hatte gesehen, wie der Wagen hielt, und kam die Treppe herunter. Sie war kleingewachsen, weißhaarig und leicht zusammengesunken, mit starken Backenknochen und einer kräftigen Nase. Sie trug eine unmoderne Hose, eine fusse-lige Strickjacke über einer zerknitterten Bluse. Hinter ihr wat-schelte ein fetter kleiner Hund undefinierbarer Rasse die Stufen hinunter. Naomi stellte uns vor. Wir verbeugten uns. Naomis Mutter, die Keiko hieß, lächelte verhalten und entschuldigte sich: seit ein paar Jahren lebe sie sehr zurückgezogen. Der Hund bellte, als wir das Gepäck ausluden.
»Mari, sei freundlich!« rief Naomi. Kunio legte seine Hand auf Maris Kopf, was zur Wirkung hatte, daß der Hund sofort still wurde und freudig wedelte.
»Sie lieben Tiere«, meinte Keiko, mit einem anerkennenden Kopfnicken. Kunio lächelte.
»Ja, mit Tieren verstehe ich mich auf Anhieb.«
Naomi fragte nach Seiji. Die alte Dame sah auf ihre winzige Armbanduhr. Er käme gleich aus der Schule, sagte sie. Wir brachten die Sachen ins Haus. Das Wohnzimmer war modern eingerichtet, mit einem Eßtisch, vier Stühlen und einem großen Buffet. Die Klimaanlage surrte, und alle Gegenstände standen in größter Unordnung, wie das bei alten Leuten oft vorkommt.
»Heute haben wir viel Wind«, sagte Keiko. »Ich lasse die Fenstertür lieber zu.«
Die Küche war vollgestopft mit Haushaltsgeräten. Es roch nach Essen, Kampfer und eingeschlossener Luft. Wir schleppten Naomis Gepäck in die erste Etage; dort waren zwei Räume japanisch ausgestattet, mit abgenutzten Binsenmatten. Kleider hingen an Drahtbügeln, und in den verstaubten Ziernischen stapelten sich Schachteln. In Seijis Zimmer herrschte ein Chaos: Jeans, alte Socken, zusammengeknüllte T-Shirts, Colado-sen, ein Stapel Kassetten, eine Stereoanlage. Der Futon lag am Boden, und daneben stand ein Fernseher. Poster von Rockmu-sikern und absurd verkleideten Ringkämpfern bildeten einen seltsamen Gegensatz zu den Batikstoffen, die draußen im Gang an den Wänden hingen.
»Die macht meine Mutter«, erwiderte Naomi, auf meinen fragenden Blick hin.
Kunio berührte behutsam die leinenartige Struktur der Stoffe.
»Das ist eine sehr alte Technik. Die Muster werden mit na-türlichen Pflanzenfarben hergestellt. «
Ich war fasziniert: Die überdimensionalen Ornamente zeugten von einer urtümlichen, nahezu ungezähmten Gestaltungs-kraft.
»Hat deine Mutter nie ausgestellt?«
Naomi schüttelte den Kopf.
»Sie ist nie mit sich selbst zufrieden. Und sie wechselt ständig die Hängebilder aus, weil ihr die alten nicht mehr gefallen.
Oder sie wirft sie in den Müll.«
»Wie wuchtig diese Muster sind!« sagte ich. »Und dabei ist deine Mutter doch so zierlich.«
Ein Funke von Heiterkeit tanzte in Naomis Augen.
»Sie entsprechen ihrer inneren Welt, nehme ich an.«
Keiko hatte inzwischen Kaffee gemacht. Wir sprachen über den nahenden Taifun, dann über die Bodenpreise.
»Vor dreißig Jahren wuchs hier nur Gestrüpp«, erzählte Keiko. »Die Autobahn war noch nicht gebaut, es gab kaum eine Straße, die hier hinaufführte. Die Bauern zogen in die Stadt, das Land war billig zu haben.«
Das Gespräch blieb steif, trotz aller Herzlichkeit. Auf dem Gesicht der alten Dame lag ein ferner, resignierter Kummer.
Ich hatte das Gefühl, daß sie sich mit gewissen Dingen abgefunden hatte, sie nicht mehr zergrübelte, sondern annahm, weil sie zu ihrem Leben gehörten, unabänderlich. Aber ich verstand Naomi jetzt besser. Die starke Geisteswelt ihrer Mutter, die sich in Farben und Formen explosiv Luft machte, hatte Naomi mit ihrem Körper umgesetzt. Beim Tanzen zeigte sie die gleiche Lebenskraft. Ich sagte Keiko, daß
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