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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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die Erlaubnis, eine anzuzünden. Sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten, denn er saß im Gegenlicht; die Sonne leuchtete hinter ihm wie eine kupferne Aura. Wir warteten still, bis er endlich das Schweigen brach.
    »Es tut mir leid, Ruth. Es war schwer für dich, ne ?«
    Ich rieb mir die Stirn.
    »Ja, das kann man wohl sagen.«
    Er wandte den Kopf zur Seite, blickte durch die offene Tür in den Garten, blickte teilnahmslos darüber hinweg. Schließlich sagte er:
    »Ich zog es vor, dich nicht in der Klinik zu besuchen. Du solltest erst wieder bei Kräften sein.«
    »Ich bin wieder in Ordnung«, sagte ich.
    Seine vollen Lippen kräuselten sich.
    »Das Undenkbare, das vor unseren Augen geschieht, sollte kein Hindernis für eine Reflexion sein. Und gleichwohl müssen wir zugeben, daß unsere Einsicht begrenzt ist.«
    Eine Krähe segelte vor der Fenstertür, so nahe, daß ich den dunkelgrünen Glanz auf ihrer Brust sehen konnte.
    »Denkst du, daß der Ranrô-ô bösartig ist?« fragte Daisuke.
    Ich verneinte mit dem Kopf.
    »Er ist mächtig.«
    Er hob die Brauen, als hätte meine Antwort ihn gefreut.
    »Seit Jahrhunderten saugt er die Erdkraft auf. Er nährt sich von ihr, durch Steine und Asphalt, durch den Schutt der Vergangenheit. Nun hat er eine Warnung ausgesprochen. Sie gilt nicht dir. Sie gilt einer Stadt. «
    Ich zuckte zusammen. Mein Herz hämmerte. Auf einmal kreisten Flecken vor meinen Augen, aus der Luft geboren und eigenartig herabschwebend – wie Farbtupfer.
    »Welcher Stadt?«
    Er sank in seinen Stuhl zurück, rauchend.
    »Siehst du, Ruth, da sind unsere Grenzen. Wir verhalten uns in vieler Beziehung wie Blinde, deren Gemütsruhe anhält, während sie am Rande eines Abgrundes dahintappen. Du hast die Warnung empfangen. Deine Aufgabe ist beendet. Die meine beginnt, und ich bin schon wieder unzureichend. Nicht einmal zornig kann ich sein, es sei denn, gegen meine eigene Bor-niertheit.«
    Ich schluckte schwer.
    »Was habe ich gesagt?«
    »Du hast eine Katastrophe angekündigt. Zusätzlich in klassischem Chinesisch. Eine Sprache, die du nicht kennst, oder?
    Auch das gehört dazu. Der Ranrô-ô lieh dir seine Stimme – die überaus angenehm war. Er sprach mit den Worten seiner Zeit.
    Sehr schön anzuhören, muß ich sagen. Er hat ein Erdbeben vorausgesagt. Diese Drohung ist nicht neu, Ruth. Sie verfolgt uns wie eine Krankheit der Vorzeit, eine nie überwundene, die uns stets von neuem befällt. Wir geben astronomische Summen aus, um erdbebenfest zu bauen. Wir tun so, als ob wir in Sicherheit wären. Aber wir haben Angst.«
    Ich rieb mir die Stirn; die Kopfschmerzen waren wieder da, pulsierten in beiden Stirnhälften.
    »Ein Erdbeben? Ja, vermutlich! Es war grauenhaft, einfach grauenhaft. «
    »Du hast von Häusern gesprochen, die in den Himmel ragen, von rauchenden Schiffen und von Straßen, auf Brücke gebaut.
    Mit anderen Worten: von Wolkenkratzern, Dampfschiffen und Autobahnen. Eine Hafenstadt. Nagasaki? Kobe? Tokio? Niiata?
    Es kann überall sein…«
    Ich knetete nervös die Hände.
    »Vielleicht fällt mir der Name wieder ein. Mit Hypnose vielleicht? Ich wäre sofort dazu bereit. Wenn bloß…«
    Daisuke saß sehr still da.
    »Es würde zu nichts führen, Ruth. Der Ranrô-ô hat keine Namen genannt. Es war für ihn eine ›anderswo‹ erlebte Szene.
    Denn als er sein Heer anführte, besiedelten nur Pfahlbauten die japanischen Küstengebiete…«
    Die Sonne sank tiefer; die Bäume leuchteten golden und rot.
    Ich hatte einen schalen Geschmack im Mund und nahm einen langen Schluck Tee.
    »Und was nun?« Daisuke sprach, als ob er sich selbst befragte. »Wollen wir deine Vision vermarkten? Urängste schüren?
    Im Fernsehen auftreten und Massenhysterien auslösen? Das auslaufende Jahrtausend weckt Konfusionen. Unsere Schrecken sind ansteckend und urtümlich. Wir bekämpfen sie mit Ratio-nalismus. Satellitenbilder zeigen das Nahen der Taifune; Computer belauschen Meere und Erdtiefen. Und gleichzeitig wissen wir, daß die Natur nicht nur auf der Ebene unserer Fähigkeiten existiert, sondern auch auf einer höheren Ebene, die nur Fähigkeiten zugänglich ist, welche wir nicht beherrschen.«
    »Und betrügen uns dafür mit virtuellen Bildern«, sagte Kunio.
    »Als Exhibition unserer Alpträume. Als ein Ausweichen, als ein Selbstverrat.«
    Meine Hände zitterten nicht mehr.
    »Wissen Sie«, sagte ich zu Daisuke, »ich stelle mir vor, daß ich eines Tages von mir aus davon geredet hätte. Aber ich werde es nicht

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