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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Stadt ein, in ein Gewirr von breiten Stra-
    ßen, Einkaufspassagen, Cafés und Springbrunnen. Kobe gilt als die Stadt der Ausländer, die Heimat zahlreicher Firmen aus Übersee, die sich schon um die Jahrhundertwende hier nieder-gelassen hatten. Wir fuhren den Kitano-dôri entlang, wo die reich gewordenen Händler ihre Residenzen gebaut hatten, eine umwerfende Mischung aus europäischem und amerikanischem Kitsch. Kunio kannte die Strecke gut. Wir fuhren in östlicher Richtung weiter. Der Okusaido-Driveway führte bergauf, dem botanischen Garten und dem Nationalpark entgegen. Hier wurde die Luft klar; das bedrückende Gefühl wich, ich atmete freier.
    »Es ist nicht mehr sehr weit jetzt«, sagte Kunio.
    Die Straße schlängelte sich durch Wälder und Hügel. Bald kündigte ein Schild den Nationalpark »Saido Kôen« an, und gleich gegenüber befand sich der Friedhof.
    Wir stellten den Wagen auf den Parkplatz, stiegen aus. Das Gelände war von einer schrägen Steinwand, ähnlich einem kleinen Schloßwall, umgeben. Der Friedhof war nicht öffentlich. Der Wächter, ein kahlköpfiger älterer Mann, schloß das Tor auf, reichte uns einen kleinen Eimer aus Weidenholz, in dem ein dünner Schöpflöffel aus Bambus schwang. Das Wasser für die »Erinnerungs-Besprengung« wurde aus einem Brunnentrog geschöpft, neben einer kleinen, weißgetünchten Kapelle.
    Vom nahen Wald wirbelte Wind, duftend nach Harz und Kräutern. Ein paar steinerne Stufen führten zu dem Friedhof. Der Wächter erklärte uns, daß sich hier fast dreitausend Gräber befänden, die letzte Ruhestätte von Industriebaronen, wohlha-benden Händlern oder Künstlern, die in Japan ihre Wahlheimat gefunden hätten. Er hatte in seinem Register nachgesehen; ja, der Name meiner Großmutter war dort vermerkt und auch, daß die angemessene Summe für die Erhaltung des Grabes jährlich überwiesen wurde. Anonym, sagte er, aber das sei keine Seltenheit. Er führte uns an die richtige Stelle. Wir kamen an Steingräbern vorbei, an Marmortafeln und Familiengruften mit überladenen Ornamenten, wie man sie auch in Italien findet.
    Doch die meisten Gräber waren schmucklos. Die Wege waren sorgfältig geharkt, die Pflanzen gepflegt. Friedhöfe sind für mich nie Orte des Unbehagens gewesen. Die Beklemmung, die manche Menschen an solchen Orten befällt, entspricht nur der Unruhe ihrer eigenen Seele.
    Die Sonne zog über die Steinquader ihre langsame, rötliche Bahn. Wie die Stille, so war auch dieses Licht ehrerbietig. Das Grab meiner Großmutter befand sich ganz dicht an der Mauer.
    Ein kleiner Grabstein aus Marmor, schlicht und leuchtend wie schwarzes Wasser, trug ihren Namen: Iris von Steinhof-Linder.
    Und zwei Daten: 1906-1941. Mehr nicht. Der Wächter entfernte sich. Kunio stand neben mir, als ich in kurze Andacht versank und lautlos zu der Verstorbenen sprach. Ich war plötzlich sehr zufrieden mit mir selbst, fast fröhlich.
    »Sieh nur, Iris, ich bin da. Ich habe Hanako gefunden und trage jetzt die Goldkette mit deinem Namen. Ich weiß nicht, wo du bist, Iris. Unter diesem Stein ruht deine Asche, aber dein Geist lebt in mir, ebenso wie der Geist meiner Ur-Großeltern und Vorfahren. Und es ist durchaus denkbar, Iris, ja sogar wahrscheinlich, daß du durch mich wieder auf die Welt gekommen bist. Ich glaube das ganz fest, Iris. Die Trennung zwischen den Lebenden und den Toten ist nur eine Illusion. In den Friedhöfen, da fühlt man das. Alles wird transparent.
    Und noch etwas, Iris: Ich bin zurückgekommen, um zu bleiben.«
    Ich machte einen Schritt rückwärts, lächelte Kunio an.
    »Beinahe ist alles so, wie es sein soll. Bis auf ganz wenige Dinge. Glaube ich jedenfalls.«
    Kunio nickte.
    »Ich weiß, was du sagen willst.«
    »Nicht wahr?«
    »Also…«
    Ich streckte die Hand aus. Er reichte mir den kleinen Eimer aus Weidenholz. Ich füllte den Schöpflöffel mit Wasser, besprengte den blanken Stein. Die Tropfen sprühten regenbogenfarbig auf dem Marmor. Dann reichte ich Kunio den Schöpflöffel. Wortlos vollführte er die gleiche rituelle Handlung.
    Die Erde duftete herb und frisch. Die Geräusche der Stadt, vom Wind getragen, schienen plötzlich viel näher. Am Hafen stieg ein Dampfer einen kurzen, traurigen Heulton aus. Ich zuckte zusammen, aber nur ganz leicht. Ein Schiff trug die Seelen dahin, wo Meer und Himmel sich vereinigen. Und manchmal werden sie wiedergeboren. Nichts bringt ihre Kraft zum Erlöschen. Der Wächter war wieder da, hüstelte und entschuldigte sich:

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