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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Kunio nahm einen tiefen Schluck.
    »Dr. Takeuchi hat mich gewarnt. Sein Herz kann jeden Augenblick stehenbleiben.«
    49. Kapitel
    I n dieser Nacht fand ich lange keinen Schlaf. Auch Kunio warf sich unruhig hin und her, bevor sein Atem regelmäßig ging. Hinter den gläsernen Schiebetüren fegte der Dezemberwind Wolken nach Süden; manchmal wurde der Halbmond sichtbar, eine phosphoreszierende Klinge. Dann glitten neue Wolken durch die Nacht. Am Himmel war ein ständiger Wechsel zwischen Hell und Dunkel. Vor der Fenstertür knisterten Zweige. Dann wurde es still; das Geräusch blieb gleich, aber es rückte in die Ferne, als ich einschlief. Im Traum sah ich ein Mädchen tanzen. Sie tanzte zu den Klängen eines Koffergram-mophons, in einem kleinen Zimmer mit Holzwänden. Ein zweites Mädchen – eine Japanerin – kniete am Boden; sie hielt den Oberkörper sehr gerade, hoch aufgerichtet. Ihr Gesicht war ernst, doch schien es nur darauf zu warten, daß ein Lächeln darübergleiten durfte. Beide Mädchen trugen einen marine-blauen Faltenrock, eine weiße Bluse. Das tanzende Mädchen hatte rostrotes Haar, lockig und kurz geschnitten; die Augen blickten träumerisch unter dichten Brauen. Die Musik war eine intensive, dramatische Opernarie. Ich hatte sie oft bei meiner Mutter gehört. Puccini: »Tosca«, ja natürlich. Ein Tenor sang.
    Ich sagte mir, das ist Enrico Caruso. Lea hatte ein Faible für ihn, obwohl er schon siebzig Jahre tot war und die alten Plat-tenaufnahmen die Stimme verfälschten. In meinem Traum sang er die Arie des Cavaradossi: E lucevan gli Stelle. Und jetzt tanzte das Mädchen nach dieser Musik. Es drehte sich im Kreis, langsam und mit großer Anmut. Ihre Augen waren weit geöffnet, aber blind, sie sahen nur nach innen. Ihr Körper war grazil, beispiellos poetisch, eine wehende Linie. In meinem Traum wußte ich, daß sie unterernährt war, am Rande ihrer Kräfte; länger als die Arie dauerte, würde sie nicht tanzen können. Sie hob sich auf die nackten Zehenspitzen, und die Ausgewogen-heit ihrer Balance zeigte, daß sie eine Ballettschule besucht hatte. Immer noch tanzend näherte sie sich der knienden Japanerin, streckte die Arme nach ihr aus. Die Japanerin wippte auf die Fersen zurück, erhob sich geschmeidig. Jetzt tanzten sie beide, wobei das rotgelockte Mädchen ihre Freundin führte. Sie sahen sich dabei an, und auf ihren Gesichtern erwachte das gleiche Lächeln, sehr fern, so unbewußt, daß es entrückt wirkte.
    Sie hielten sich an den Händen, legten dann langsam die Arme umeinander. Und als Carusos Stimme mit einem letzten Schluchzen erstarb und nur noch die Nadel auf der Platte kratzte, da standen sie Schläfe an Schläfe, ihre erhitzten Gesichter berührten sich, und in ihren Augen war ein leichtes Erschrek-ken. Plötzlich, in meinem Traum, heulte eine Schiffssirene, mehrmals, langanhaltend. Die Gestalten der Mädchen verblaß-
    ten; ich nahm sie nur noch als sanfte Silhouetten wahr, wie im Nebel. Dann löste sich das Bild auf. Was blieb, war das Ge-räusch; keine Schiffssirene, nein, sondern das Klingeln des Telefons. Ein paar Sekunden lag ich benommen da, dann drehte ich mich auf den Rücken und öffnete die Augen, im selben Atemzug, da Kunio sich schlaftrunken aufrichtete und über mich hinweg nach dem Hörer griff. Ein Schauer überlief mich, mein Herz hämmerte. Instinktiv tastete ich nach dem Lichtschalter; der milchige Schein der kleinen Stehlampe traf schmerzhaft meine Augen. Ich lag so dicht neben Kunio, daß ich Ries Stimme vernahm, als er den Hörer an sein Ohr drück-te.
    »Kunio… Vater geht es nicht gut. Ich habe den Krankenwa-gen bestellt. «
    Unsere Blicke trafen sich; er richtete sich auf den Ellbogen auf. Jeder Rest von Schläfrigkeit war von ihm abgefallen.
    »Ich komme.«
    Er legte den Hörer auf. Ich sah auf die Uhr. Bald vier. In jenen frühen Stunden vor Tagesanbruch, in denen die Menschen am häufigsten sterben, war es im Zimmer eiskalt. Kunio stand auf, schaltete die Klimaanlage an, die wir in der Nacht abstell-ten. Er las seine Kleider auf, die verstreut am Boden lagen, und begann sich anzuziehen. Ich warf die Daunendecke zurück, wankte ans Fenster; draußen hing eine schwebende Schicht aus Nebel. Kunio griff nach dem Autoschlüssel.
    »Ich habe das irgendwie erwartet.«
    Ich nickte mit zugeschnürter Kehle. An der Tür legte er kurz beide Arme um mich, schmiegte sein Gesicht, noch warm vorn Schlaf, an meines.
    »Ich rufe dich an.«
    Er zog seinen Parka an, stieg

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