Seidentanz
nur das, es war auch, als setze sie voraus, daß ich mich mit ihr im Einverständnis befand und es bloß nicht wahrhaben wollte. Dann schüttelte sie langsam den Kopf »Nein, Ruth.
Kunihiko hat den Anhänger nie gesehen. Keiner hat ihn jemals gesehen. Nicht einmal Akemi.«
Sie nickte uns zu, voller Einsicht, aber immer noch mit diesem Lächeln, das alle Tatsachen, auch die unbegreiflich wun-dersamen, als Teil ihrer Erfahrung akzeptierte und sich vielleicht – ein klein wenig – darüber amüsierte. In ihrem Alter stand es ihr zu.
»Alles hat seinen Sinn, auch wenn es uns wie ein Rätsel vorkommt. «
Sie zögerte kurz, bevor sie hinzufügte:
»Und manchmal sogar wie ein Scherz.«
Endlich konnten wir uns ansehen, Kunio und ich. Aus unseren Augen sprach das Schicksal, das uns zusammengeführt hatte, endgültig, unwiderruflich. Momente von gestern und Momente von heute, mit minutiöser Genauigkeit übertragen: Ein Eingriff von außen in unsere Existenz, ein Zeichen von jenseits, präzise wie eine Fotokopie. Ein Befehl also, der einer ganz bestimmten Sache diente, ein Akt der Liebe auch: Jener, der uns dieses Zeichen sandte, mußte unserer sicherer sein, als wir es selbst waren. Er zeigte Kunio, was er zu tun hatte und auch, daß ich in seiner Nähe sein sollte. Wir konnten nicht einmal mehr sagen, ob wir erschrocken waren oder nicht. Er -
Kunihiko – vertraute uns. Es gab Dinge, die er gemacht haben wollte. Und jetzt hatten wir das Problem: Wir waren ihm ausgeliefert.
Wir tauschten ein schwaches Lächeln. Ich sagte matt:
»Dein Vater ist verflixt gerissen, oder?«
»Das war er schon immer«, seufzte Kunio. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr!«
52. Kapitel
K unihiko hatte seinen Willen kundgegeben. Er konnte nicht mehr in Frage gestellt werden. Die Verantwortung erfüllte Kunio mit Genugtuung. Er hatte nicht gewußt, daß er so entschlossen sein konnte. Aber die Zeit drängte. Kunihiko war seit drei Wochen bestattet. Kunio mußte die Arbeit in den ersten neunundvierzig Tagen vollenden, »wenn die Seele noch um die Dachtraufen schwebt«. So verlangte es die Tradition. Kunihiko war ein Träumer gewesen, von einem wunderbaren und glü-
henden Wahnsinn besessen. In dieser Zeit spürte Kunio seine beständige Nähe. Er wußte nicht genau, was er tun mußte, daher tat er, was er für richtig hielt und ging sehr überlegt vor.
Noch am gleichen Abend rief er Kunihikos Gehilfen an, die im Nachbardorf wohnten. Er bat sie, am nächsten Tag frühmorgens zur Schmiede zu kommen. Ich entsann mich, Noboru und Tadashi bei Kunihikos Bestattung gesehen zu haben. Sie waren schon da, als wir eintrafen, und verbeugten sich scheu. Kunio schloß die Schmiede auf. Die Shimenawa, die geweihte Schnur, umschloß alle vier Wände und erfüllte ihren Zweck, obschon die Votivbänder feucht und vergilbt waren. Wir schlüpften aus den Schuhen und verneigten uns, bevor wir die Werkstatt betraten. Der Zementboden war kalt unter meinen Füßen, die in Wollsocken steckten. Im Korb lag noch das Feuerholz. Die verschiedenen Geräte waren mit Klammern oder Eisenbarren an den Wänden aufgehängt. Es roch nach Holzkohle, nach kalter Asche. Kunihikos Geist war hier daheim, frei schwebend im Raum wie Nebel. Alle Gegenstände, die er berührt hatte, waren noch von seiner Kraft durchdrungen. Kunio besprach mit Noboru und Tadashi den Arbeitsvorgang. Eine exakte Zeichnung reichte nicht aus, um die Übertragung in Stahl perfekt zu machen. Die Figur mußte zuerst mit einer Knetmasse model-liert werden. Kunio meinte, daß er in zwei bis drei Tagen fertig sein könnte. Danach würde eine exakte Schablone angefertigt, um bei der Gravur die nötigen Korrekturen vorzunehmen. Erst danach würde die Spalt- und Gravurarbeit beginnen. Sie würde viel Zeit in Anspruch nehmen. Das Spalten war ein Vorgang, der aus Ausschmieden, Biegen und Einrollen bestand und so lange vorgenommen wurde, bis das ganze Motiv aus einem Stück entstand und als Teil der Klinge eingesetzt wurde. Jedes Detail mußte in minutiöser Kleinarbeit hergestellt sein und die Instrumente immer wieder im Wasser gekühlt werden. Kunio zeigte beiden jungen Männern die Skizze; sie stießen jene Zischlaute aus, mit denen Japaner in respektvoller Form ihre Bewunderung ausdrücken. Mich interessierten diese Dinge; ich empfand eine tiefe Beziehung zur Materie, war fasziniert vom Vorgang ihrer Vervollkommnung. Es war ein Eingreifen der Menschen in den Rhythmus, der den »lebendigen«
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