Seidentanz
nur für mich tanzte. Daß er in meine Gestalt schlüpfte, nicht, um mich zu verhöhnen, wie ich befürchtet hatte, sondern um mich vor einem Unglück zu bewahren. Er tanzte in einer Aura weißen Lichtes, voller Verzückung. Als ob er die Todes-macht herausforderte, sie von mir abwendete, sich selbst zum Opfer anbot: Da, nimm mich, ich bin bereit! Dieses Gefühl war unbeschreiblich, aber es war da. Ich kann es bis heute nicht erklären. Und in der letzten Sequenz, als sich sein ausgezehrter Körper in einen Kranich verwandelt und auf einer Lichtsäule ins Jenseits schwebt, da taumelte er plötzlich, stürzte und brach sich den Fuß. Ein erschrockener Laut stieg aus dem Publikum.
Zwei Techniker halfen ihm, sich aufzurichten. Er befreite sich aus den Armen, die ihn hielten, und trat vor die Zuschauer.
Tiefe Stille, dann ein schweres, ehrfürchtiges Murmeln. Und dann setzte der Beifall ein. Die Zuschauer waren von ihren Sitzen aufgestanden, applaudierten wie Wahnsinnige. Manche weinten. Keita fand noch die Kraft, sich zu verbeugen, bevor er, von den Technikern gestützt, in die Kulissen humpelte.
Der Fuß war an zwei Stellen gebrochen. Keita bekam einen Gips, konnte sich nur noch auf einer Krücke fortbewegen. Und auf dieser Krücke humpelte er durch seine Alpträume. Er begann wieder zu trinken. Seine Wutanfälle nahmen zu, er legte mir alles zur Last. Es war, als hätte er den Magen voll von Gift und könnte es nicht herausspucken. Er wird jeden Tag älter, dachte ich. Wenn ich ihn doch wenigstens umarmen könnte.
Aber er würde mich von sich stoßen, dabei wäre es das einzige Mittel gewesen, ihn zu beruhigen. So ging es nicht weiter. Ich setzte die Tournee allein fort, und er flog nach Tokio zurück.
Ein paar Wochen später erhielt ich die Nachricht, daß er von einem vorbeifahrenden Auto erfaßt worden war, als er ohne Gips und völlig betrunken auf der Straße tanzte. Er wurde ins Krankenhaus eingeliefert und verbrachte anschließend zwei Monate in der Nervenheilanstalt. Jetzt geht es ihm wieder besser. Sein Fuß ist geheilt, und er hat auch das Trinken aufgegeben. Unsere gemeinsame Wohnung hat er aufgelöst und ein Studio gemietet. Er arbeitet an einem neuen Stück und gibt Workshops an drei Abenden pro Woche. Ich erfuhr, daß er immer mehr Schüler hat. Viele arrivierte Tänzer ziehen ihn bei ihren Bühnenwerken zu Rate. Das ist gut. Das braucht er jetzt.
Er ist schließlich immer noch der beste Butoh -Darsteller Japans. Was er braucht, ist jemand, der sich seiner annimmt, mit viel Zärtlichkeit, und ihm seinen Schlaf zurückgibt. Ich glaube, ich kann es. Er hat sich immer gewünscht, in meiner Gegenwart zu sterben. Und wenn du mich jetzt fragst, Ruth, welche Gefüh-le ich für ihn habe, so kann ich dir nur sagen, daß ich ihn liebe; daß ich ihn in mir fühle, in jeder Zelle und in jedem Blutstropfen. Wenn ich die Augen schließe, träume ich nur von ihm. Tot oder lebendig, ich werde nie aufhören, ihn zu lieben.«
7. Kapitel
D ie Triebwerke summten gleichmäßig. Ich sah aus dem Fenster; unter mir wehten Wolken. Ich bin abgereist, dachte ich, es ist wirklich soweit. Ich reiste mit dem Gefühl, daß es so kommen mußte, daß alle Linien meines Lebens auf diesen unsichtbaren Punkt in der Ferne zustrebten. Irgendwo, in Raum und Zeit, gestaltete das Schicksal sein Gewebe; das Schiffchen glitt durch bunte Fäden, formte ein Muster. In ihm waren alle Menschenbilder enthalten, die in meinem Leben etwas bedeuteten: Iris, Lea und Michael, Hanako, Naomi und andere, die noch kommen würden. Ich trug Erinnerungen in mir, die nicht die meinen waren. Dunkle Wesenheiten und Geheimnisse, ein wirrer und unbefestigter Traumstoff, regsam, lebenswarm. Ich würde diese Dinge unter vielerlei Gesichtspunkten erleben.
Vorläufig begnügte ich mich damit, zu beobachten und zu lernen.
Zwischenlandung in Frankfurt. Uns blieb eine Stunde Zeit, um das Flugzeug zu wechseln. Die Lufthansa mit Direktflug nach Osaka ging kurz nach fünf. Ein Bus brachte uns zur Ab-flughalle für die Interkontinental-Flüge. Gepäck und Paßkon-trolle. Wir stellten uns an. Es roch nach Kerosin, Tabak und Kaffee. Flughafengeruch. Die künstliche Luft machte träge und durstig. Hinter chromglänzenden Theken sprudelte Orangensaft in großen Behältern. Zwischen Rucksäcken und Taschen lagerten müde Transit-Reisende auf den Bänken. Gongsignale ertönten, ein Start folgte dem anderen. Halb fünf: Die Passagiere wurden aufgerufen. Flug 740 nach Osaka.
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