Seidentanz
schwangen sich in den Himmel. Das Festland. Die Bahnlinie, auf Betonpfeilern gebaut, schwebte über Straßenschluchten, zog an Parkanlagen, Bürotürmen und Warenhäusern vorbei, an Garagen und Tankstellen. Dann wieder Holzhäuser und glitzernde Ziegeldächer; mikroskopisch kleine Gärtchen; bunte Daunendecken, auf Baikonen in der Sonne ausgebreitet, wie die Farbkleckse der Kubisten.
Osaka. Der Hauptbahnhof: eine Stadt in der Stadt. Säulenhal-len, Treppen, unterirdische Gänge, mit hellen Fliesen überzogen, die sich kreuzten, sich teilten, in neue Treppen mündeten.
Ein Café reihte sich an das andere. Hunderte von Imbißstuben und Restaurants, unzählige Läden voller Krimskrams füllten die labyrinthische Struktur. Und Menschen überall, alle ha-stend. Gesichter flogen uns entgegen, dunkle Haarschöpfe wippten auf und ab im eiligen Rhythmus. Eine Art dumpfes Brummen erfüllte die Gänge. Ich hatte Kopfschmerzen. Wir schleppten unser Gepäck eine Treppe hinauf, dann die nächste.
Auf dem Bahnsteig standen die Leute dicht hintereinander Schlange. Ein vollbesetzter Vorstadtzug donnerte vorbei. Naomi zeigte auf eine Tafel: Der Shinkanzen-Zug, der Super-Expreß nach Kyoto, fuhr gleich ein. Bald wurde die weiße Riesenschlange, lautlos gleitend, an der Kurve sichtbar. Die Türen teilten sich. Eine Menschenmenge stieg aus, fast genau so viele stiegen ein. Kein Sitzplatz mehr, wir mußten stehen.
Der Zug setzte sich in Bewegung, beschleunigte die Fahrt. Die Vororte zogen vorbei. Bald waren wir draußen auf dem Land.
Der Shinkanzen erreichte seine volle Geschwindigkeit mit kaum spürbarem Schaukeln. Naomi und ich dösten vor uns hin.
Die Fahrt dauerte kaum eine halbe Stunde.
Jede Stadt hat ihre eigene Farbe: Lausanne ist blau, Mailand bronzebraun, Paris silbern und manchmal schwärzlich grau.
Kyoto im warmen Spätnachmittag erschien mir rosa flirrend, wie eine Seifenblase. Wir warteten mit unserem Gepäck auf einem großen Platz. Zeitverschiebung. Ich blinzelte, rieb mir die Augen. Wir sprachen nur das Nötigste. Ein altmodischer Bus kam, wir kletterten hinein; er würde uns in die Mitte der Stadt bringen. Müde und schwitzend lehnten wir uns in unsere Sitze. Ich erhaschte Kyotos Bilder wie in einem Kaleidoskop, ein verwirrendes Wechselspiel von Licht und Schatten. Verstopfte Straßen, Gedränge auf den Fußgängerstreifen. Hochhäuser aus Beton und Marmor, überdeutlich in der klaren Luft.
Daneben alte Fassaden mit Baikonen; elegante, kühle Boutiquen wechselten ab mit altmodischen Drogerien, mit Schau-fenstern voller Fotoapparate und Stereoanlagen. Kühlschränke und Waschmaschinen, mit Werbesprüchen beklebt, standen auf dem Gehsteig. Und dann wieder Schiebetüren aus Holzlamellen und Reispapier, Hängerolläden, fast bäuerlich; Bambuszäune, zum Schutz gegen den Straßenverkehr vor den Hauswänden angebracht. Und hier und da, hinter einer Mauer aus Bruchstein, das Dach eines Tempels, von Bäumen umgeben, still, vergessen von der brodelnden Hetze der Stadt.
Die Sonne sank. Der Abendhimmel schillerte lila, wie ein Seidentuch. Von den Wohnblöcken schimmerten Lichter her-
über. Neonfarben blinkten und zuckten vor meinen Augen.
»Die Dämmerung ist viel kürzer als bei uns«, stellte ich überrascht fest.
»Wir sind gleich da«, sagte Naomi.
Der Fahrer, der weiße Handschuhe trug, kündigte die Halte-stellen über Lautsprecher an. Jetzt drosselte der Bus die Fahrt, hielt an einer Kreuzung, im dichtesten Stau. Naomi nickte mir zu, stand auf. Wir zwängten uns durch den Gang. Naomi gab dem Fahrer ein Ticket, bevor wir nach draußen sprangen. Wir warteten, bis die Ampel auf Grün wechselte und das kleine Musiksignal für die Blinden ertönte. Dann liefen wir über den Fußgängerstreifen, an Stoßstangen und Scheinwerfern vorbei.
Meine Reisetasche schlug schmerzhaft an meine Schenkel, der Tragriemen rieb mir die Schulter wund. Naomi ging voraus, ihren Rucksack schien sie mühelos zu schleppen. Wir kamen an einer Tankstelle vorbei, bogen um eine Ecke, dann um eine andere. Von dem Verkehrschaos auf der Hauptstraße trennten uns keine zwei Minuten, aber hier war eine andere Welt. Puppenhäuser aus Holz, Eisenblech und Ziegel säumten die Stra-
ßen ohne Gehsteig. Wir kamen an Dutzenden von Werkstätten vorbei, in denen ältere Männer, ein weißes Schweißtuch um die Stirn geknotet, etwas zimmerten, hämmerten, sägten oder nähten. Früchte und Gemüse, sorgfältig in geflochtenen Körben aufgestapelt,
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