Seidentanz
unterschiedlichste Assoziationen ein. Aber kann ich denn gewollt haben, daß etwas über mich kommt?«
»Natürlich nicht«, sagte ich.
Sie sah mir fest in die Augen, ihr Blick schien sachlich, doch ich sah darin den Schatten ihrer fernen Gedanken.
»Wie sieht sie eigentlich aus?« fragte sie, mit plötzlicher Neugierde.
Da kam Naomi die Treppe herunter, im weißen Trainingsanzug, den Trench über die Schultern geworfen. Ihr Gesicht war glatt und heiter. Evelyn gab ihr die Hand und schien betroffen.
Naomi lächelte zerstreut. Susanne legte ihr den Arm um die Schultern, sie wollte mit ihr das Finanzielle erledigen. Sie setzten sich abseits an einen Tisch. Susanne gab Naomi eine Quit-tung. Sie unterschrieb, gähnte ein paarmal, spielte mit ihrem Pferdeschwanz. Evelyn starrte sie an.
»Sie sieht wie ein Schulmädchen aus, das hätte ich nicht gedacht. «
»Sie hat viel Lebenserfahrung«, sagte ich.
Yoshito kam, etwas atemlos. Er hatte den Technikern geholfen, den Bühnenboden von den Flecken von Schweiß und wei-
ßer Schminke zu säubern. Ich beglückwünschte ihn zu seinem perfekten Sound. Yoshito lächelte erfreut. Alwin kam mir plötzlich in den Sinn. Seine Existenz war mit meinem Leben verknüpft, ein Schmerzgefühl zog durch mich hindurch und verschwand. Vorbei, dachte ich.
Susanne brachte uns mit ihrem Wagen ins Hotel. Evelyn kam auch. Im Restaurant war ein Tisch reserviert. Künstler nach der Vorstellung sind aufgedreht und hungrig, froh, daß sie es geschafft haben. Naomi und Yoshito langten kräftig zu: Pilzsup-pe, Geflügelsalat, dann Lammfleisch mit Reis und Fenchel.
Naomi trank Wein, und sie trank ziemlich viel. Die Stimmung war etwas steif: Evelyn versuchte Naomi in ein Gespräch zu ziehen, doch Naomi war mit dem Essen beschäftigt und antwortete ausweichend. Erst beim Kaffee ging sie, wenn auch nur widerwillig, auf die Fragen ein, sprach mit leiser, zurückhaltender Stimme. In ihre Augen trat allmählich ein Lächeln, eine Ruhe. Über die »Vogelfrau« sagte sie wenig aus. Je schwieriger eine Aufgabe sei, desto intensiver müsse man sich auf sie ein-lassen. Selbst wenn das Publikum nicht jede Geste und jede Bewegung verstehen würde, so übertrage sich doch die Kraft und die Konzentration, die von der Tänzerin ausgingen. Naomi bat Susanne um eine Zigarette und zündete sie an, während Evelyn über das Stück sprach. In Wirklichkeit sprach sie nur über sich selbst.
»Von Beginn an war ich sehr irritiert. Aber ich finde jede Irritation positiv, sogar, wenn sie zuviel wird. Zuerst diese unglaubliche Pracht und Erotik. Und auf einmal die Verwandlung! Da war doch ein Skelett, oder? Glaube ich, jedenfalls. Ich fand die Sequenz erschreckend. Und was bedeutete die Vogelfrau? Mir scheint, daß Anfang und Ende nicht im Zusammenhang standen.«
Naomi rauchte verträumt, den Ellbogen auf den Tisch ge-stützt.
»Wir leben in den Grenzen zwischen Geburt und Tod. Unser Körper weiß von diesem Schicksal. Als Tänzerin bin ich luzid.
Ich schöpfe das Denken meines Körpers aus, so lange, bis es verbraucht ist. «
»Aber woher kommt dieses Denken?« bohrte Evelyn weiter.
»Aus dem Milieu Ihrer Kindheit vielleicht?«
»Aus dem Schlamm«, antwortete Naomi.
Evelyn sah sie genau an, versuchte zu verstehen.
»Sie meinen, aus dem Urschlamm?«
Naomi trank einen Schluck. Ein Funken von Schalk tanzte in ihren Augen.
»Nein, aus dem Schlamm der Reisfelder. «
Für die Schauspieler, die in ihrem Theater auftraten, pflegte Susanne die »Suite« zu reservieren. Es handelte sich um eine Etagenwohnung in einem Neubau. Künstler gehen meistens mit einer Crew auf Tournee. In der »Suite« konnten sechs bis acht Leute schlafen. Sogar eine kleine Küche war vorhanden. Restaurants sind teuer, die Schauspieler zogen es oft vor, selbst zu kochen.
In der Wohnung war alles ruhig; durch das Fenster fiel der Blick auf die schwarzen Umrisse der Berge. Die Uferlichter glitzerten, ein blasser Mondsplitter hing über dem See. Yoshito entschuldigte sich, verschwand im Badezimmer. Die Dusche plätscherte lange. Er ging nicht mit Naomi nach Japan zurück, sondern wollte frühmorgens um sechs den Zug nach Barcelona nehmen.
»Er hat jetzt etwas Geld, und er will sich Europa ansehen«, sagte Naomi. Sie zog ihren Trench aus, schüttelte ihr Haar.
»Müde?« fragte ich.
Sie hob beide Arme, streckte sich.
»Nein, jetzt nicht mehr. Nach dem Tanzen fühle ich mich jung.«
»Ist die Inszenierung von dir?« fragte ich.
Hinter uns
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