Seidentanz
Schritten, und auch unter den Schritten anderer Besucher, die kamen und gingen. Bald lichtete sich der Hain. Der Honden –
das Heiligtum – mit seinen Nebengebäuden kam in Sicht. Das Holzbauwerk wirkte wuchtig und rein, prunkvoll wie ein Ge-mälde und gleichsam urtümlich wie eine Hütte; es war, als wäre er der Erde entwachsen, als Teil der Bäume, Büsche und Felsen. Ein vergoldetes Sims zog einen schwungvollen Bogen, dem Bug eines Schiffes ähnlich. Eine Reihe großer Laternen, mit Schriftzeichen versehen, bildete eine dichte Girlande. Vor einer palisadenartigen Umzäunung stand ein kastenähnlicher Opferstock, in den die Besucher einige Münzen warfen, bevor sie an einem der drei mächtigen Strohseile zogen, an dem eine Schelle aus Messing hing. Die Schelle bimmelte laut; die Besucher senkten den Kopf, schlugen zweimal in die Hände und beteten. Über die ganze Länge des Heiligtums war die Shitne-nawa – die Schnur der Läuterung – gespannt, ein Tau aus Reisstroh, an dem weiße Papierzacken hingen. Das Tau, in einer Spirale gedreht, wirkte seltsam lebendig, wie ein Schlangen-leib. Im Helldunkel dahinter befand sich ein Altar aus schlich-tem Holz. In polierten Opferschalen waren Orangen und Reiskugeln zu Pyramiden aufgeschichtet. Eine Anzahl Reisweinfässer, mit Strohgeflecht umwickelt und mit den Namen der Stifter versehen, standen beiderseits des Altars.
»Der Sake wird bei den Schreinfesten ausgeteilt«, erklärte Naomi. »Er schenkt uns den heiligen Rausch.«
Man kann ihn auch auf der Bühne erleben, dachte ich, schwieg jedoch, denn ich wollte ihr nicht die Heiterkeit nehmen. Auf dem Altar stand ein flammenähnliches Gestell, ebenfalls aus Holz geschnitzt. Zwei Flammen – oder waren es Schwingen? – züngelten seitwärts empor. Aus einem runden Spiegel, in der Mitte angebracht, strömte Helligkeit wie aus einem Scheinwerfer und blendete die Augen. Tiefer im Schatten flimmerten ein paar Sonnenstrahlen. Staubteilchen tanzten im Licht, verschleierten das Innere des Schreins, den Mittelpunkt, das Geheimnis. Mein Mund wurde plötzlich trocken; ich wandte mich ab.
Gleich gegenüber dem Heiligtum, nach Westen hin, erhob sich eine Art Pavillon. Die Holzbühne, von schlanken Säulen getragen, war mit einer doppelten Reihe Laternen geschmückt.
»Das ist der Haiden«, sagte Naomi. »Hier wird musiziert und getanzt. Japanische Götter mögen keine Opfer. Sie wollen unterhalten werden.«
Mein Blut kreiste schneller. Ich spürte wieder diese seltsame Unruhe in mir, als ob mein Herz wie ein gefangener Vogel aufhüpfte und flatterte. Der Gedanke durchzuckte mich: »Hier werde ich tanzen!«
Naomis Stimme riß mich aus meiner Versunkenheit.
»Möchtest du ein Gebet sprechen?«
Ein Gebet? Ja, dachte ich, das wird hier wohl nötig sein.
Wortlos nahm ich das Geldstück, das Naomi mir reichte, warf es in den Opferstock. Ich hörte das Klirren der fallenden Münze, zog an dem Seil. Zu verzagt, schien mir, die Schelle gab nur ein schwaches Bimmeln von sich. Doch Naomi nickte mir aufmunternd zu. Ich klatschte zweimal in die Hände, neigte die Stirn und flüsterte:
»Wer immer du bist, mach, daß ich nicht versage.«
An wen oder was richtete ich mein Gebet? An die Leere?
Nein, hier war die Luft von Geheimnissen erfüllt, von alten und mächtigen. Und ähnlich wie im jüdischen Glauben waren sie nur als Symbole sichtbar.
»Was du fühlst, das ist das Wesentliche«, sagte Lea. »Und alles Drum und Dran kannst du vergessen.«
Ein Weg unter Bäumen führte zu der Residenz des Hohenpriesters. Hier wurden auch Verwaltungsarbeiten erledigt und Privataudienzen gegeben. Über die Trittsteine, die durch einen kleinen Garten führten, gelangten wir zu einem Geländer aus dunklem Holz. Ich trat hinter Naomi in einen kleinen Vorraum mit Schuhregalen. Ein paar Stufen führten zu dem eigentlichen Wohnbereich. Der Boden war glänzend poliert, fast spiegelglatt. Alle Räume waren mit Schiebetüren aus Holz und Reispapier verschlossen. Als Naomi ein paar Worte rief, glitt eine dieser Schiebetüren auf einer hölzernen Gleitschiene auf. Eine junge Frau erschien. Sie trug das Gewand der Priesterinnen: einen langen karminroten Hosenrock und ein weißes Oberge-wand mit Flügelärmeln. Das glatte Haar war im Nacken zu einem Knoten zusammengehalten. Ihre Augen leuchteten fröhlich auf, als sie Naomi erblickte. Beide Frauen kannten sich, wechselten einige herzliche Sätze. Naomi stellte mich vor. Die Priesterin verneigte sich; ich
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