Seidentanz
alten Worte:
›Du kennst das Leben nicht, noch weißt du, wer du bist‹, sind ihnen unheimlich. Hier wird ein Zustand angedeutet, von dem sie nichts wissen wollen. Sie haben Jahrtausende gebraucht, um sich abzuhärten; sie verabscheuen Schatten, die sie nicht unterwerfen können. Sie sind im Grunde unstabile Geschöpfe.
Frauen sind stärker, bewegen sich unbefangen im Dunkel der Magie, seit Anbeginn der Zeiten.
Du und ich sind sehr intuitiv, Lea darling. Bleibt noch die Frage, warum Sagon bei mir eine Ausnahme macht. Ich finde das sehr interessant, aber ich kann mir nicht vorstellen, was ihn dazu bewegt. Will er ein Tabu brechen? Oder ist er angezogen vom Kontrast?«
Ich las den Brief durch, dann zerriß ich, was ich geschrieben hatte. Den Kugelschreiber warf ich dazu. Es war unfair, Lea mit unlogischen Vorstellungen zu belasten. In mir steckte eine Fülle von Assoziationen, ich trug bloß meine Widersprüche aus. Es war keine Fertigkeit oder ein Talent, sondern ein Instinkt, schlicht und einfach. Irgendwann würde etwas beginnen, etwas, von dem ich nicht wußte, was es war. Geduld, Lea! Das Geheimnis ist noch nicht entschlüsselt. Und du hast genug anderes im Kopf.
Tänzerinnen arbeiten vor dem Spiegel und benutzen ihn als kühles, unparteiisches Auge, um ihre Haltung zu verbessern.
Bei Sagon war kein Spiegel in Reichweite, mich selbst konnte ich nicht sehen. Die Arbeit, die er von mir verlangte, erforderte eine Konzentration, die ich nicht erlangen konnte, wenn ich abgelenkt wurde. »Warum ist kein Spiegel da?« hatte ich Sagon am Anfang gefragt. Seine Antwort: »Der Spiegel bin ich«, hatte mich kaum überrascht; noch weniger, daß er dabei auf seine Augen deutete. Da war kein Trick. Der Lernprozeß sollte sich in der Spannung, im Austausch, im Hin- und Herfluten der Kräfte zwischen Meister und Schülerin vollziehen; der Wille mußte entlastet werden, das Ichbewußtsein verschwinden, statt sich zu verdoppeln. Was wäre ein Spiegel also? Nichts als ein sperrender Gegenstand. Die Grundform hatte ich inzwischen gelernt, sie bestand aus einem kräftigen Hochheben der Füße, aus einem fast reglosen Stampfen und Drehen, die Knie gebeugt, was auf die Dauer die Muskeln derart beanspruchte, daß meine Beine zitterten. Der Tanz umschwang eine unsichtbare Achse, aus der die Erdkraft wie eine Säule emporwuchs. Die Arme seitwärts gestreckt, langsam schwingend, das Gewicht auf die Knie verlegt. Das Verfahren bestand darin, den Schwerpunkt des Beckens auf die Außenseite beider Beine zu verlegen und deren Innenseite anzuheben, wobei die Knie sich öffneten und der Rumpf gesenkt wurde. Wichtig dabei war, daß der Oberkörper gerade blieb, so daß eine feierliche, gebieterische Haltung entstand. Diese Haltung wirkte ungeheuer maje-stätisch, als ob ich sitzend schwebte. Der Körper in Bewegung, wahrgenommen von der Körpermitte aus, versuchte ich mir diese Position einzuprägen. Die Haltung richtig hervorzubringen, kostete mich eine fast unerträgliche Anstrengung. Ich glaubte die Erdkraft zu spüren, die sich unter meinen Füßen ansammelte, und leitete sie in umgekehrte Richtung, wie ein Magnet: ein langsamer Blitz aus der Tiefe, der durch den tan-zenden Körper in den Himmel floß. Derweil gab Sagon das Tempo an, indem er mit der Hand auf den Schenkel schlug und gleichzeitig mit dumpf suggestiven Lautmalereien modulierte:
»Don, don, don, don!«
In Wirklichkeit konnte ich mir den bewußten Akt des Zuhö-
rens kaum leisten. Mein Körper machte dieses und jenes, dazu war er in der Lage, es war eine Sache des Trainings, der Koor-dination. Es bedurfte Übung, nicht mehr und nicht weniger.
Unterdessen befaßte ich mich mit der Maske, und zwar sehr intensiv. Sie hing an der Papierwand, ein roter Fleck im Neonlicht, während mich der Blick aus ihren pendelnden Augen unablässig verfolgte. Meine Sinne warnten mich: Der Geist des Ranryô-ô war tückisch. Ohne einen festen psychischen Schild durfte ich mich der Maske nicht anvertrauen. Nicht nur, daß es Komplikationen geben konnte – beispielsweise ein Schwindelgefühl oder eine Schwäche in den Beinen –, ich riskierte dazu noch, krank im Kopf zu werden. Da mußte ich wirklich sehr aufpassen, das verflixte Ding war gefährlich. Das Schlimmste war, daß sie zu mir sprach. Es war keine Stimme, die ich vernahm, eher eine Klangvibration, ein Durcheinander von Lauten, die mich zu Anfang beträchtlich verwirrten. Nach etlichen Malen hörte ich sie deutlicher, bis ich die
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