Seidentanz
und meistens in Stichworten. Dafür gab er für Ferngespräche ein Vermögen aus. Nach deinem Schweigen zu schließen geht es dir gut. Japan ist so herrlich vieldimensional, daß du dich nicht langweilen wirst. Vor ein paar Tagen war Agnes hier. Agnes, du kennst sie doch, sie arbeitete mit Kilian und Béjart, bevor sie Choreographin beim Ballet de l’Opéra de Nice wurde. Jetzt hat sie die wahrhaft geniale Idee, die Schöpfungen der ›Ballets Russes‹ in der Originalfassung aufzuführen. Zu Beginn will sie ›Petrouchka‹, ›L’Après-midi d’un Faune‹ und ›Le Sacre du Printemps‹
bringen. Die Suche nach den Partituren, die Neuschaffung zeitgenössischer Kostüme, die Wiederherstellung der Bühnenbilder von Bakst erfordert – wie Agnes betonte – archäologische Akribie; ich sei nahezu prädestiniert, die nötigen Recherchen zu leiten. Agnes begründete das durchaus überzeugend, so daß ich mir zum Schluß unentbehrlich vorkam. Kurz, ich habe mir einen Stellvertreter gesucht und gehe jetzt für ein halbes Jahr nach Nizza. Ich werde bei Agnes wohnen, ich gebe dir die Adresse. Außer Spesen kann sie mir nichts zahlen, aber du weißt ja, ich greife in die Tasche, wenn es mich packt – und diese Sache gebe ich nicht wegen ein paar läppischer französischer Francs aus der Hand. Meine Kniearthrose? Kein Anlaß zur Besorgnis, ich lande höchstens für vier Wochen in der Klinik (und anschließend zur Kur), aber erst im nächsten Jahr.
Vorerst werde ich in Museen und Bibliotheken stöbern, mir alte Filme anschauen und in Archiven wühlen. Wunderbar! Zum Glück fahre ich noch ziemlich gut Auto. Es kann also sein, daß ich auf längere Zeit unerreichbar bin. Brauchst du Geld, wende dich an die Bank. Sonst gilt wie immer: Keine Nachricht, gute Nachricht! Wie steht es mit deinem Japanisch? Natürlich bist du nicht bei Iris gewesen, du wirst anderes im Kopf haben, aber denke gelegentlich mal daran. Sonst habe ich keinen Wunsch.
Sushi gibt es auch in Frankreich, der Fisch ist frischer als in der Schweiz, aber ich werde stoisch davon Abstand nehmen: Eine Salmonellen-Vergiftung kann ich mir jetzt nicht leisten. Ich umarme dich. Sayonara!«
Ich las schmunzelnd den Brief. Ja, die Aufgabe war für Leas Tatendrang wie geschaffen. Ihre Energie würde dort das richtige Ventil finden. Ich dachte, schreib ihr sofort zurück, dann hast du es hinter dir. Ich schrieb gerne Gedichte und Essays, aber nicht Briefe und vor allem nicht an meine Mutter. Worte auf dem Papier erregten mich; ihrer Macht waren keine Grenzen gesetzt, sie wurden selbständig und beschrieben ganz andere Dinge – für die Lea ein allzu feines Gespür hatte. Es war eigentlich keine Frage, ob ich diese Dinge für mich behalten wollte, sondern bloß eine Frage des Wie und des Wann. War ich bei mir, in dem, was ich schrieb? Oder mischte ich alles?
Die Sache mit der Maske zum Beispiel. Ja, die Maske war von großer Bedeutung. Mit dieser Erfahrung hatte ich nicht gerechnet.
»Da läßt sich was draus machen«, würde Lea sagen.
Jedesmal, bevor ich tanzte, zündete Sagon ein Weihrauchstäbchen an. Dann nahm er die Maske aus der Schachtel und hängte sie an ihrer Schnur auf. Da hing sie nun an der Papierwand, und ihr gespenstischer Blick aus zwei beweglichen Kugeln ging über meinen Kopf hinweg. Ich hatte mich in ihre Betrachtung zu vertiefen, das war die Regel: In eine Maske muß man sich hineindenken, bevor man sie aufsetzt. Ich sollte das richtige Gefühl kriegen. Na schön, wir würden ja sehen.
»Das Fesselnde ist der Umstand, daß sie ein Geheimnis birgt«, erzählte ich Lea in meinem Brief (den ich inzwischen begonnen hatte). »Wenn ich die Augäpfel bewege, dreht sie ihre Augäpfel nach rechts oder links, dieser Eindruck ist sehr deutlich. Zudem – aber dabei muß es sich um eine optische Täuschung handeln – scheint die Maske sich so gegen den Hintergrund abzuheben, als schwebe sie auf mich zu. Ich habe schon Masken getragen und mich ihnen nie überlegen gefühlt: Sie sind Kultgeräte. Die Begegnung mit ihnen ist nicht auf die Bühne beschränkt. Ist dir aufgefallen, Lea, daß die Maskenträ-
ger fast ausschließlich Männer sind? Auf der ganzen Welt ist das so. Die Frage ist: Warum? Ich stelle sie mit Nachdruck und ziemlich ironisch, Lea, weil ich die Antwort schon kenne.
Männer verlassen sich zu sehr auf ihren Verstand, ihnen liegt auch zu viel an der Moral – an irgendeiner Moral. Sie brauchen die Maske, um jenseitige Wesen zu mimen. Die
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