Seidentanz
alles führte. Aiko und Sagon sprachen jetzt miteinander in schnellem, gedämpftem Tonfall. Der Priester hatte sich auf die Fersen zurückgesetzt, sein Gesicht zeigte wieder die gewohnte Ruhe, doch die straffe, goldene Haut war um eine Schattierung blasser geworden. Ich blickte von einem zum anderen. Wenn sie langsam sprachen, verstand ich sie, aber dieses Gespräch war zu ausführlich für mich. Schließlich nickten beide und wandten sich mir zu. Der Priester überließ es seiner Frau, mir die Lage zu erklären. Aikos Brauen wölbten sich wie zarte Weidenblätter über die dunklen Augen.
»Entschuldige Ruth, aber es fällt uns manchmal leichter, nicht Englisch sprechen zu müssen. Die Situation ist sehr au-
ßergewöhnlich, das mußt du verstehen.«
Ein Zittern durchlief mich. Ich spürte erneut, wie mein Nak-kenhaar sich sträubte.
»Es tut mir leid, wenn ich Komplikationen mache. Das war nicht meine Absicht. Womöglich habe ich mir alles bloß ausgedacht?«
Sagon schüttelte den Kopf. Sein Tonfall war düster.
»Nein. Ich habe dich beobachtet: Etwas hat dich berührt. Ei-ne fremde Wesensart war dabei, sich zu formen. Sie war noch nicht ganz da; aber sie war bereit zu kommen. Sie ist nicht bösartig, sie ist mächtig. Wir dürfen ihre Warnung nicht miß-
achten.«
Ich dachte, wenn ich verrückt bin, dann ist er es auch, und ich bin in bester Gesellschaft.
»Ja, und was nun?« seufzte ich.
»Es gibt verschiedene Aspekte der Wirklichkeit. Die Nähe der Geister, die Sagen von ihrem Schicksal, das Spielen damit bringt Gefahren mit sich. Du darfst ihnen nicht schutzlos ausgeliefert sein. Es beschämt mich sehr, dir einzugestehen, daß ich das Ritual für dich nicht ausüben kann. Wir werden Daisuke Kumano aufsuchen. Vielleicht weiß er Rat.«
Als ich das Haus des Priesters verließ, fielen die Tropfen dichter und schneller. Die Straßen glänzten wie Gummi. Meine Füße patschten in den nassen Turnschuhen. Die Luft war stik-kig und reglos; ich schaute in die Dunkelheit, in die aufleuchtenden Lichter der entgegenkommenden Wagen. Die Passanten starrten mich verwundert an, denn alle außer mir hatten einen Regenschirm aufgespannt. In Naomis Studio brannte Licht.
Eine Welle freudiger Erregung durchlief mich. Kunio war schon da! Er war heute bei seinem Vater in Miwa gewesen und hatte mir gesagt, daß es spät werden könnte. Ich lief die Außentreppe hinauf und klopfte. Ich sah Kunios Schatten hinter dem blinden Küchenfenster; durch den Spalt zwischen Tür und Fußboden hörte ich seine Schritte. Er öffnete die Tür, sah mir ins Gesicht und sagte mit teilnahmsvoller Bestürzung:
»Hast du keinen Schirm?«
»Ich kann Schirme nicht leiden.«
»Du bist ja ganz naß!«
»Das macht nichts.«
Er starrte mich an; ich schleuderte mit einer Fußbewegung meine durchweichten Turnschuhe ab. Er stand vor mir, sah zu, wie ich den Wickelrock aufhakte, mein Trikot von den Schultern gleiten ließ, es langsam über meine Hüften rollte. Der nasse Stoff klebte an meiner Haut. Kunio trat dicht an mich heran, umfaßte mich mit beiden Armen. Er legte die Hand auf meine Stirn, nahm mein Gesicht in beide Hände, küßte mich.
Sein T-Shirt wurde sofort naß, als er mich an sich preßte, und die Haut schimmerte hindurch.
»Zuerst ein Bad«, flüsterte er. »Sonst erkältest du dich.«
Im kleinen Badezimmer schwebte eine Dampfwolke. Ich seifte mich ein, rieb mich mit dem Schwamm aus Seegras ab.
Kunio rollte die Abdeckung der Badewanne zurück. Er füllte Wasser in die Plastikschüssel, vergewisserte sich, daß es die richtige Temperatur hatte und goß es mir über den Kopf. Ich blinzelte, während mir der Seifenschaum über die Augen lief.
Schon goß mir Kunio eine zweite Ladung über den Kopf.
Dann ließ ich mich langsam in das heiße Wasser der Wanne gleiten. Die Klimaanlage summte leise. Wohlige Hitze lockerte meine Muskeln. Kunio saß auf dem Rand, streichelte meine Brust, umkreiste sanft die Spitzen mit den Fingern. Schließlich seufzte er.
»Es tut mir leid. Wir werden uns ein paar Tage lang nicht sehen.«
Ich sah ihn fragend an. Er sagte:
»Ich gehe mit meinem Vater nach Tokio. Das Kunstmuseum Ueno plant für nächstes Jahr eine Retrospektive seiner Werke.
Dazu kommt ein Interview, das er einer Zeitschrift versprochen hat. Er will auch einige Verwandte und Freunde besuchen.
Mein Vater ermüdet schnell. Ich möchte nicht, daß er allein reist.«
»Natürlich nicht. Wann fährst du?«
»Morgen schon.«
Ich stieg
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