Seidentanz
Gedanken sind Wellen aus versiegelten Erinnerungen. Die meisten Menschen denken nicht daran. Schade! Ich finde das schön. Die Sache mit dem Altarschrein, meine ich. Der Geist der Ahnen ist nicht nur auf dem Friedhof; er ist überall, am fühlbarsten jedoch in dem Haus, in dem sie gewohnt haben.«
Er lächelte mit großer Wärme.
»Du verstehst diese Dinge.«
»Ich bin eine Tänzerin, Kunio. Was ich auf der Bühne sehe, ist nicht das, was die Zuschauer sehen.«
»Du mußt ihnen ja den Weg zeigen.«
Wir lächelten beide gleichzeitig. »Und Hanako?« fragte ich.
»Wie akzeptierte sie die Heirat?«
»Sie versuchte nicht, den Lauf der Dinge zu beeinflussen.
Daß es am Anfang… etwas frostig sein würde, war ihr klar.
Zuerst ging sie wie auf rohen Eiern, lebte sehr zurückgezogen und widmete ihre Zeit kulturellen Aufgaben. Zu Familienfeiern erschien sie immer im Kimono, damit ihre Behinderung nicht auffiel. Als Rie und ich geboren wurden, da kam sie oft. Kinder sind gute Vermittler. In ihren alten Tagen bewohnten die Schwiegereltern ein kleines Nebenhaus. Nach ihrem Tod richtete sich Hanako dort ein Atelier ein. Seit der Erkrankung meiner Mutter wohnt sie endgültig bei uns.«
Nach einer Pause sagte er:
»Hanako mag Rie sehr gern. Aber sie steht Hanako nicht so nahe wie ich. Rie ist nüchtern, sehr unverblümt und zeigt nie, wenn sie eingeschüchtert ist. Zwischen Hanako und mir besteht mehr als Zuneigung. Ich kann nicht genau sagen, was es ist. Sie hat meine Unruhe in einem Netz gefangen und aus dem, was am schwächsten in mir war, eine Stärke gemacht. Rie? Wir sind uns nicht sehr ähnlich, sie und ich. Sie weiß genau, was sie will, sie macht alles gut und richtig.«
»Wie sieht sie aus?«
»Selbstbewußt und sehr sexy, du wirst sehen. Sie ist Buchhändlerin.«
»Ja, das weiß ich von Naomi.«
»Der Besitzer wollte den Laden verkaufen. Rie und ein paar Freundinnen haben eine AG gegründet und eine Frauenbuchhandlung daraus gemacht. Das Geschäft läuft gut.«
»Ich sehe schon, sie gleicht deiner Mutter.«
»Zumindest, was die Energie betrifft. Mein Vater hätte es nie gewagt, eine ihrer Entscheidungen in Frage zu stellen.« Er stockte kurz, seine Augen blickten über mich hinweg, ins Leere, bevor ein Seufzer seine Brust hob.
»Und siehst du, für ihn war Akemis Tod eine Tragödie, die er nie überwinden wird. Daran stirbt er, an diesem Verlust…«
Ich drückte die Lippen auf seine Schulter.
»Ich verstehe.«
Er legte eng den Arm um mich.
»Ich weiß, daß meine Eltern sich sehr liebten. Als Akemi in die Klinik kam, ging er täglich zu ihr – außer an drei Tagen, an denen er erkältet war. Sie blieb vier Monate im Krankenhaus.
Mein Vater saß an ihrem Bett, sprach leise zu ihr. Er hielt ihre Hand, wenn sie Infusionen bekam, was ihr große Schmerzen bereitete. Er war bei ihr in der Nacht, als sie starb. Und jetzt sehe ich, wie er täglich ein wenig mehr stirbt, wie er seinem Schmerz Kräfte entgegenstellt, weil er bald wieder bei ihr sein will. Und ich spüre seinen Schmerz, Ruth, als wäre er mein eigener…«
Er schwieg nun; ich streichelte sein Haar. Es floß stark und geschmeidig durch meine Finger. So lebendig, dachte ich.
Schließlich brach ich das Schweigen.
»Warum erzählst du mir das alles?«
Er rückte leicht von mir ab, um mich zu betrachten.
»Einer anderen Frau hätte ich diese Dinge nicht gleich er-zählt.«
»Warum mir?« wiederholte ich.
Er hob die Schultern.
»Ja, warum eigentlich? Ich kann es nicht sagen, Ruth. Ich habe nur so das Gefühl, daß du auf irgendeine Weise zu meiner Lebensgeschichte gehörst. Aber ich habe keine Erklärung da-für.«
»Zerbrich dir nicht den Kopf darüber«, murmelte ich. »Wir können diese Dinge nicht ändern.«
»Hast du auch diesen Eindruck?«
»Im großen und ganzen.«
Wir sahen uns an; wir waren aus Müdigkeit in eine leichte Traurigkeit gefallen. Der Gedanke, daß wir uns gefunden hatten, war neu. Es war ein stabiles Gefühl, der Schlüssel zu vielen Rätseln, eine heitere Gewißheit. Schattenhaft, noch ungenau definiert, wurzelte sie im Dämmer unserer Träume, eine geheimnisvolle Saat, die in uns reifte und eines Tages Früchte tragen würde.
16. Kapitel
I ch bekam einen Brief von Lea. Den ersten. Sie warf mir ohne viel Überzeugung Schreibfaulheit vor.
»… Nur eine Postkarte! Du hättest ruhig etwas ausführlich werden können. Aber du bist erblich belastet, Ruth darling, dein Vater war nicht anders: selten einen Brief
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