Seidentanz
betreten.
»Doch, du bist müde und hast ein Recht, es zu sein. Wir haben die Zeit um zwanzig Minuten überzogen. Es ist meine Schuld, Gomennasai!«
»lie – nein, durchaus nicht!« Ich bewegte verneinend die Hand, wie die Japaner es tun. Die Bewegung hatte ich schnell gelernt. Doch ich hörte nicht richtig zu. Die ganze Zeit war die Stimme in mir, die dasselbe Wort wiederholte, jenes Wort, das sich aufgelöst hatte und verschwunden war, in Vergessenheit geraten. Aber nicht ganz. Es sickerte durch meine Wahrnehmung wie der Regen, der jetzt dünner fiel. Inzwischen schlürften wir den Tee. Sagons Ausdruck war unbewegt. Nach einer Weile sagte er:
»Ich werde dich bald mit der Gruppe zusammenbringen. Den Bewegungsablauf hast du gut im Kopf. Und dann kannst du die Maske tragen und dich an sie gewöhnen.«
Der Becher fiel mir fast aus der Hand. Irgendwas in mir brach an die Oberfläche, wie eine Wasserblase, die lautlos zerplatzt. Ich hörte mich ein Wort aussprechen; ein Wort, von dem ich nicht wußte, ob ich es vielleicht bloß erfunden hatte.
»Iwasaku!«
Dann – plötzliche Stille. Ein paar Atemzüge lang knieten Sagon und Aiko auf ihren Kissen, unbeweglich wie Bilder in einem Rahmen. Doch ich erhaschte den Blick, den sie tauschten, bevor Aiko betont ruhig das Schweigen brach.
»Was hast du gesagt, Ruth?«
»Iwasaku…«, wiederholte ich mechanisch. »Das Wort fiel mir jetzt gerade ein…«
Aikos Stimme klang rauh.
»Einfach so?«
»Nein, nicht ganz…«
Niemand auf der Welt dürfte so von sich erfüllt sein wie eine Tänzerin, wenn sie ihre eigenen Traumbilder schafft. Aber das war noch lange kein Grund. Mein Kopf war wieder klar. Ich lachte verlegen auf, ein wenig verstört durch ihre Reaktion auf das, was ich gesagt hatte, und gleichzeitig beschämt, daß ich mich so schlecht beherrschen konnte. Ich deutete auf die Maske.
»Mir war, als ob sie das zu mir gesagt hätte…«
Aiko zog mit leisem Zischen die Luft ein. Sagons Augen glitzerten eigentümlich scharf. So unbewegt war sein Gesicht, als wäre es aus Granit gemeißelt. Ich spürte ein Kribbeln und sah zur Maske hin, in nervöser Unruhe. Doch nichts geschah.
Der Ranryô-ô hing an der Wand, schief, wie mir auffiel, die Farbe war an manchen Stellen abgenutzt, und obendrein wirkte das Hängekinn grotesk. Die Maske war ein schönes Schnitzwerk, mehr nicht, und gab keinerlei Anlaß zur Besorgnis, sonst könnte man ja kein Museum besuchen, aus lauter Angst, von alten Gegenständen behext zu werden. Ich sagte:
»Das war natürlich nur Einbildung. Es tut mir leid.«
Wieder der Blickwechsel. Wieder der gleiche Ausdruck von Ungläubigkeit und Bestürzung. Dann stellte Sagon langsam die Schale auf das Tablett zurück. Ich bemerkte, wie seine kräftigen Hände leicht zitterten.
»Ruth, weißt du, was dieses Wort bedeutet?«
Der körnige Tee mit dem starken Aroma hatte mich wieder belebt. Ich sagte:
»Nein. Mir fiel es beim Tanzen ein. Ich war unaufmerksam, Mori-Sensei. Es wird nicht wieder vorkommen.«
»Bist du ganz sicher, daß du es vorher nie gehört hast?« fragte der Priester. Doch bevor ich antworten konnte, murmelte Aiko mit leisem Vorwurf in der Stimme: »Woher denn, Sagon?«, und da wiegte er schwer und unsicher den Kopf. Ich sah, daß sich seine Arme mit einer Gänsehaut überzogen hatten. Als er dann sprach, klang seine tiefe Stimme noch tiefer.
»Ich glaube kaum, daß Fremde jemals ein Wort gehört haben, das sogar die meisten Japaner nicht kennen. Es handelt sich um ein Oharai – einen Exorzismus. Das Ritual wurde vollzogen, um eine Seele daran zu hindern, den Körper zu verlassen, oder um die Seele eines Toten zurückzurufen, oder auch, um die Lebenskraft zu stärken. Und noch etwas mußt du wissen…«
Er stockte kurz, bevor er dumpf hinzufügte:
»Die Beschwörung ist uralt. Sie geht auf das Todesjahr der Kaiserin Suiko – 628 – zurück. Und ist seit über zwei Jahrhunderten in Vergessenheit geraten.«
Aiko nickte, zustimmend und besorgt. Ihr Gesicht schimmerte, ich roch ihr elegantes Parfüm, das so wenig zu der Situation paßte.
»Wir wissen, daß es früher vollzogen wurde. Aber wir wissen nicht mehr, wie es ausgeführt wird. « Und leise fügte sie hinzu: »Es tut uns leid…«
Ich trank meinen Tee aus. Also doch. Was war geschehen vorhin, als ich geglaubt hatte, die Maske sprechen zu hören?
Hier passieren ja die eigentümlichsten Dinge, dachte ich. Unangenehm war, daß ich nicht klar zu erkennen vermochte, wohin das
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