Seidentanz
einzelnen Klangfre-quenzen unterschied und ganz automatisch in Worte umsetzte.
Die Stimme, die keine Stimme war, begann zur Obsession zu werden, ein Zustand, der mir nicht gefiel. Sie sagte in logischen Sätzen höchst unlogisches Zeug. Zum Beispiel, daß sie seit tausend Jahren auf mich wartete. Unwillkürlich nahm ich den Dialog auf, weil mir die Sache so abstrus vorkam.
»Ich will mit dir nichts zu tun haben!«
»Ich kann ruhig noch ein paar Tage warten«, sagte der Ranryô-ô.
»Verschwinde, du Biest! Ich halluziniere nicht.«
»Dir fehlt es an Respekt«, sagte der Ranryô-ô. »Siehst du, ich besitze einige Fähigkeiten, die mir nichts nutzten, solange nur Männer mein Gesicht trugen. Die männliche Kraft reicht nicht aus, um die Träger zu bewegen, ich benötige dazu noch die weibliche Kraft. Jetzt steht sie mir zur Verfügung. Du wirst sehen, was du sehen mußt, und mit meiner Zunge sprechen.
Sei ruhig, ich mache dich nicht krank, es sei denn, du ver-sagst. Hör zu, ich will dir ein Geheimnis sagen. Es gibt ein mächtiges Wort, das dich schützt. Ein Zauberwort. Vergiß es nicht, sonst bist du in Gefahr.«
Der Ranryô-ô sagte mir das Wort. Er sagte noch andere Dinge, aber ich konnte sie nicht hören und wußte deshalb nicht, was es für Dinge waren. Die beiden Kugeln regten sich im flackernden Luftzug, das Zypressenholz hatte ungewöhnlich dichte Stellen, düstere Tönungen angenommen, um Stirn und Nase entdeckte ich bewegliche Schatten. Der Ranryô-ô lebte; ich glaubte zu hören, wie er atmete, flach und schnell. Rückte das Geheimnis näher? Jetzt schon? Was würde ich mit dieser Maske tun, wenn ich sie aufsetzte? Ich brauche mehr Zeit, ich hatte nicht genug Abwehrkräfte. So ein renitentes Ungeheuer, dachte ich, hängt einfach da, redet Unsinn und macht mich nervös.
»Don, don, don!«
Das vibrierende Echo in meinen Ohren: Sagons Stimme. Ich zuckte in einem plötzlichen, nervösen Krampf. Meine Wahrnehmung war in dem Zustand der letzten paar Sekunden stek-kengeblieben. Die Stimme kam von einem Ort, der irgendwo existierte. Sie war immerhin da und brachte mich zur Vernunft.
»Die Füße hoch! Was ist los, Ruth? Tanzt du oder schläfst du im Stehen ein?«
Ich fing an, mich wieder in der Welt zurechtzufinden. Ich würde mit Sicherheit lernen müssen, meine Vorstellungen besser unter Kontrolle zu halten. Ich hatte eine wirklich störende Schwäche dafür, ihnen nachzugeben. Sagon fuhr fort, den Rhythmus zu bestimmen; sein Oberkörper schaukelte leicht hin und her, wie ein Taktmesser.
»Don, don…«
Nichts zu machen: Ich taumelte wie ein Mensch, der von einer starken Strömung erfaßt wird und keine Kraft aufbringt, ihr Widerstand zu leisten. Und es war nicht völlige Einbildung: Die Luft war von leisem Rascheln, von Plätschern und Tropfen erfüllt. Meine Verwirrung dauerte nur einen Atemzug, während eine Art flackernder roter Kreis mich verließ; da klärten sich meine Sinne. Die Schiebetür stand leicht offen. Der herbe Geruch feuchter Erde drang in den Raum. Es regnete, ziemlich stark sogar. Und gleichzeitig sah ich Sagon auf der Matte knien, die Hände auf den Schenkeln, und mich stirnrunzelnd anstarren.
»Alles in Ordnung, Ruth?«
Mein Körper klebte vor Schweiß. Ich strich mein klammes Haar aus der Stirn.
»Es tut mir leid. Das war diesmal etwas merkwürdig…«
Er nickte, geistesabwesend auch er.
»Ja. Vielleicht liegt es daran, daß es regnet.«
Eine Pause trat ein, Sagon ließ mich nicht aus den Augen. Er kannte mich gründlicher, als ich dachte, aber das störte mich nicht. Das tiefinnerliche Schaudern war nicht abgeklungen.
Noch zitterten mir die Knie, von meinen pochenden Schläfen ganz zu schweigen. Da – ein Schleifen an der Tür: Ich zuckte zusammen, übertrieben, wie mir schien. Ich war plötzlich auf Geräusche empfindlich geworden. Doch es war nur Aiko, die den Tee nach dem Unterricht brachte.
»Es regnet ziemlich stark!« meinte sie. »Ich werde dir einen Schirm geben.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das ist nicht nötig. Ich liebe den Regen.«
Ich kniete auf dem Kissen nieder, nahm die schöne Teeschale in Empfang und bedankte mich. Der Maske wandte ich den Rücken zu; doch sie war noch da, starrte mich aus rollenden Augenkugeln an; es war gar nicht notwendig, daß ich mich umdrehte. Ich spürte ihre Anwesenheit wie einen kalten Finger im Nacken. Aiko nickte mir besorgt zu.
»Müde, Ruth?«
»Nein, eigentlich nicht.«
Sagon sah auf seine Armbanduhr und grunzte
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