Seidentanz
aus der Wanne, trocknete mich flüchtig ab und knotete die Schärpe meiner Yukata zu, die vom Tragen schon ganz weich geworden war. Inzwischen machte sich Kunio in der Küche zu schaffen. Einen Augenblick später stellte er ein Tablett auf den Tisch. Ich hob behutsam die verschiedenen Dek-kel, welche die Speisen in den Schüsseln warm hielten.
»Ach Kunio, das sieht ja köstlich aus.«
Er lachte mit weißen Zähnen.
»Du weißt doch, ich bin ein guter Koch!«
Es gab frischen Tofu, dünne Rindfleischscheibchen, dazu ei-ne geleeartige Pflanzenwurzel, Konnyaku genannt, die ich besonders mochte, blumenförmig geschnittene Karotten und Gur-kenscheibchen, die in einer pikanten Sauce aus Soja und Ingwer angemacht waren. Und Reis. Eine Suppenbrühe mit »Kon-bu«, getrocknetem Seekraut, dampfte in den Schalen. Kunio öffnete eine Flasche Kornbier, goß mir ein Glas ein. Wir stie-
ßen an. Ich nahm meine Eßstäbchen und fragte:
»Wann wirst du zurück sein?«
»In einer Woche.«
»Und die Schule?«
Er grinste.
»Ich habe frei bekommen. Als Sohn eines ›lebenden Denkmals‹ hat man auch einige Vorteile.«
Wir lachten beide, ich weniger als er. Mit dem Bad war Mü-
digkeit über mich gekommen; aber es war eine seltsame, schwer verständliche Müdigkeit, und sie hing mit anderen Dingen zusammen. Das Essen fiel mir schwer. Er fragte nicht, ob es mir nicht schmeckte; er hatte gemerkt, daß ich kaum Appetit hatte.
»Traurig?« fragte er zärtlich.
Ich stellte die Schüssel auf den Tisch, legte die Stäbchen behutsam daneben.
»Traurig, ja. Aber es ist nicht nur das. Obwohl… Entschuldige, Kunio, ich bin etwas durcheinander!«
Er nahm einen Schluck und wartete, daß ich sprach. Ich holte tief Luft.
»Es ist wegen der Maske«, sagte ich. »Sie hat zu mir gesprochen.«
Stille. Der Regen schlug an die Scheiben. Kunios braune Augen sahen mir gerade ins Gesicht. Ich dachte, wenn er lacht, ist alles vorbei. Doch er lachte nicht. Er stellte sein Glas auf den Tisch, rutschte auf den Knien zu mir hin. Ich nahm seine Hand zwischen meine beiden Hände und preßte sie. Er hatte einen Gesichtsausdruck wie damals, als er mir von seiner Kindheit erzählte. Sehr aufmerksam, sehr ernst. Und die Frage, die er nun stellte, war eine ganz andere, als jene, die man logi-scherweise hätte erwarten können. Und doch war es genau die richtige Frage.
»Was hat sie dir gesagt?«
In mir wurde es plötzlich hell. Jetzt würde ich frei sprechen können, ohne Furcht, mißverstanden zu werden. Und sprechen wollte ich; ich wollte die Gedanken, die mich bedrängten, mit jemandem teilen.
»Es war seltsam, weißt du…«
»Solche Dinge sind immer seltsam.«
Ich spürte die Resonanz seiner Stimme in mir, wie ein Echo.
»Wenn ich tanze«, sagte ich, »vernehme ich oft Geräusche oder Stimmen. Das klingt wie ein Flügelschlag oder wie ein Chor, von dem ich nur das Echo höre. Die Töne, die ich dann singe, sind eine Nachahmung. Sie geben mir Kraft. Verstehst du?« Er streichelte mein Haar, das noch feucht vom Bad war.
»Du tanzt am Rande der Welt, zwischen den Lebenden und den Toten. Ja, ich verstehe. «
Woher weiß er das? fragte ich mich. Ich merkte plötzlich, daß ich Kopfschmerzen hatte.
»Auf der Bühne stelle ich eine Figur dar. Sie ist bloß ein Phantom. Ich bin es, die ihr Gestalt und Leben verleiht. Mit meinem Atem, mit meinem Blut. Ich werde zum Medium. Ein Medium muß ertragen können, daß eine fremde Wesensart von ihm Besitz nimmt. Klingt das idiotisch?«
»Sicher nicht.«
»So ist es eben.«
»Ja.«
Ich schwieg. Der Kopf tat mir zum Verrücktwerden weh.
»Sprich weiter«, sagte Kunio.
Seine ruhige, wärmende Kraft stand in seltsamem Gegensatz zu seinem schwerelosen, geschmeidigen Auftreten, zu seinem Gesicht, das manchmal so kindlich wirkte, zu seinem offenen, arglosen Lächeln.
»Und plötzlich geschieht eine Verwandlung, Kunio. Ich bin nicht mehr ich selbst. Daß die Natur nicht nur auf der Ebene unserer Wahrnehmung existiert, sondern auch auf einer anderen Ebene, ist mir klar.«
Er antwortete gleichmütig:
»Irgendwer hat mal gesagt: Nichts kann gedacht werden, was nicht existiert oder existieren könnte. Der Ranryô-ô sprach also?«
Die Kopfschmerzen wurden stärker. Ich fühlte das Blut in meinen Schläfen pochen.
»Er sprach. Sehr eindringlich sogar. Ohne daß ich ein Wort hörte. Bilde ich mir das ein?«
»Ich glaube nicht.«
»Nein, nicht wahr? Ich hörte ihn mit dem Kopf, und nicht mit den Ohren.
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