Seidentanz
angesichts einer Sache, die aufregend, aber nicht absonderlich ist.
17. Kapitel
J uni in Kyoto. Regenzeit. Dichte Wolken senkten sich über die Stadt; die Sonne, blaß und fern, schwebte wie eine weiße Kugel im Nebel. Kyoto füllte sich mit grauer Schwüle, roch nach verstopfter Kanalisation. Das Zischen der Reifen auf dem Asphalt wurde zu einem Dauergeräusch. Ein Wogen bunter Regenschirme erfüllte die Straßen. Die Menschen hasteten vorbei; manchmal prallten die Schirmspitzen für einen kurzen Moment gegeneinander, und man entschuldigte sich. Der Regen prasselte ununterbrochen. Das abendliche Farbenspiel der Straßenbeleuchtung, der Verkehrsampeln und der Autoscheinwerfer zersprang in zuckenden Lichtfetzen; jeder Tropfen zersprühte in Pünktchen und Funken, jede Pfütze flackerte in leuchtenden Wellenlinien.
Regenzeit ohne Kunio. Dämmerung, Morgen und Tag verschwammen ineinander. Graue, düstere Stunden, die kein Ende nahmen; einsame Nächte, von Plätschern erfüllt und so kalt, daß ich einen elektrischen Heizofen anstellte. Regenzeit ohne Kunio, gleichmäßig und langweilig; ein blinder Fleck vor den Augen, eine Sehnsucht im Herzen. Kein Augenblick, an dem er nicht bei mir war; immer, die ganze Zeit. Kunio liebte es, lange neben mir zu liegen und mich, den Kopf auf meiner Schulter und meinem Hals, umschlungen zu halten. In meinem Traum lag er reglos da, und mein Verlangen wurde immer intensiver.
Ich ließ die Hände über meinen Körper gleiten, berührte und streichelte die richtigen Stellen. Nach einer Weile legte er sich auf mich, drang tief und stoßweise in mich ein, bewegte sich in meiner Wärme. Ich spürte sein Leben in mir, spürte es wirklich und wahrhaftig, preßte beide Hände auf meinen Unterleib, krümmte mich zusammen, um es festzuhalten. Ich durchlebte meine Phantasien, füllte Konturen aus, fügte Gefühle hinzu. Ich meinte, Lea sprechen zu hören.
»Lea, ich verstehe mich nicht mehr.«
»Du liebst ihn also.«
»Ich weiß es nicht. Tatsächlich liebe ich ihn beinahe. Und es ist nicht nur körperlich, obwohl…«
»Er ist verdammt gut im Bett, das willst du doch sagen, oder?«
»Ja. Aber dahinter steckt mehr.«
»Das war ja vorauszusehen.«
»Du bist sehr überheblich, Lea. Das warst du schon immer.
Und jetzt bin ich hilflos.«
»Doch wohl kaum hilflos.«
»Lea, es ist manchmal nicht leicht, deine Tochter zu sein.«
»Und die Maske? Wie willst du mit ihr fertig werden, wenn du nicht ganz bei der Sache bist, hm?«
»Laß mich in Ruhe, Lea. Gib mir keine Ratschläge.«
Ich hatte mir meine Tage genau eingeteilt. Ich baute mein Grundtraining aus, paßte es der Enge des Wohnraumes an.
Daneben lernte ich japanisch; zu Beginn war Kontinuität der wichtigste Faktor. Manche sagen, japanisch sei die schwerste Sprache der Welt. Für mich war sie nicht schwerer als jede andere Sprache; die akustische Vieldeutigkeit war bloß eine Sache der genauen Aussprache, ich begriff das alles, mehr oder weniger jedenfalls. Was das andere betraf, so ersetzte die schwingende Phantasie die sachliche Information. Erspüren war mir wichtiger als Verstehen, und der nötige Raum blieb offen. Nachmittags, wenn der Regen etwas nachließ, sah ich mir die Stadt an. Jetzt war die beste Zeit für Tempel- und Mu-seumsbesuche, abseits vom Gedränge der Touristen. Sagon hatte mir Kassetten mit seinen Kompositionen gegeben; ich steckte sie in den Walkman; die Musik begleitete mich auf meinen Spaziergängen, Trommeln und Schlaginstrumente skandierten die Zeiteinheiten; die rhythmischen Strukturen pulsierten in mir; sirrende Fäden, von Flöte und Oboe gesponnen, legten sich um meine Seele. Ich rief mir die Schritte und Drehungen in Erinnerung, berechnete jede Sequenz, wobei ich mit den Händen den Takt schlug, wie Tänzer es beim Training tun. Wer mich auf der Straße gestikulieren sah, mußte denken, ich sei nicht ganz bei Verstand. Nach einer gewissen Zeit schaltete ich die Kassette aus; ich sehnte mich wieder nach Stille, nach den natürlichen Geräuschen des Regens. Im grünen Dunst wanderte ich um den Teich, in dem sich der Kinkakuji – der goldene Pavillon – spiegelte. Alles war in smaragdenes Dämmerlicht getaucht, sogar das Gold schillerte grünlich; das grazile Bauwerk wirkte seltsam beseelt. Ein Murmeln und Tropfen erfüllte die Luft, Karpfen glitten wie farbige Schatten durch das dunkle Wasser. Es roch nach Moos, Schlamm und Holzkohle.
Ich begegnete nur einem älteren Ehepaar, beide dunkel gekleidet,
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