Seidentanz
beide unter schwarzen Regenschirmen. Sie blickten mich an, verklärt, als sähen sie eine Erscheinung. Ich verneigte mich höflich; sie erwiderten den Gruß. Wir wechselten keine Silbe.
Ich besuchte den Heian-Schrein mit seinen wuchtigen roten Balken, seinen geschweiften Dächern im chinesischen Stil. In dem kleinen Teich quakten Frösche, und hoch oben in den Bäumen saß wie ein Wächter ein Storch. Ich besichtigte den Daitokuji-Tempel mit seinem wundervoll schlichten Zen-Garten, den Kamigamo-Schrein mit den zwei großen weißen Sandhügeln vor der Haupthalle. Unter Tausenden von rotbe-malten Portalen wanderte ich den Pfad zum Fushimi-Inari-Schrein am Berghang empor. Über den hohen Baumwipfeln kreisten Raben. Auf einmal wurde der Himmel durchsichtig blau wie Porzellan; weiße, warme Sonnenstrahlen fielen auf die Tsuka-Erdhügel, die Altäre für die Naturgeister. Ich betrachtete das sich verändernde Licht, die aufleuchtenden und verblassen-den Farben; in Japan waren die Schleier nur dünn. Ich besichtigte den »Schrein der Seidenraupen« mit seinem dreifachen Steintor inmitten des Hains. Die Bäume waren alt, so alt, daß sie versteinert wirkten. Von den verschlungenen Ästen tropfte Regen, Wurzelknäule ragten aus der durchweichten Erde. Das Dickicht war undurchdringbar, dunkel; der ganze Hain schien aus Augen zu bestehen; wir starrten einander an. Mir war, als ob die Luft Wellen warf, die kühl und hauchfein meine Haut berührten. Hinter den Bäumen aber schimmerten Wolkenkratzer aus Stahl, Marmor und Glas; kein Widerspruch, nein, sondern ein Brückenschlag von Zeitalter zu Zeitalter, eine Synthe-se des menschlichen Werdens. Atemberaubend.
Mittwoch abend: ein Anruf von Sagon. Ich sollte mich morgen um vier im Yasaka-Schrein einfinden. Wir würden mit Daisuke beraten, was zu tun sei. Anschließend würde Sagon mich unterrichten.
Der Donnerstag kam; die Luft war kühl und feucht und mit dem herben Duft des versiegenden Regens getränkt. Über das Trikot zog ich einen Pullover aus Baumwolle, knotete meinen Wickelrock fest. Barfuß in Sandalen machte ich mich auf den Weg. Erregung verspürte ich kaum. Aus Wißbegier ließ ich mich gerne ins Leere hineinhängen und machte mir um die Folgen nur wenig Gedanken.
Ich traf pünktlich ein, doch im Vorraum erblickte ich Sagons Schuhe; er war also schon früher eingetroffen. Ich klopfte; der scheue junge Priester begrüßte mich mit einer tiefen Verneigung; ich schlüpfte aus meinen Sandalen und folgte ihm. Vor dem Empfangszimmer kniete der junge Mann nieder, zog die Schiebetür vor mir auf. Sagon und Daisuke saßen vor dem niedrigen Tisch unter der Vitrine mit den nachgebildeten Hochzeitsmenüs aus Plastik. Im Nebenzimmer telefonierte eine Sekretärin mit zirpender Stimme. Beide Männer erhoben sich, um mich zu begrüßen. Sagon hielt eine Zigarette in der Hand.
Mir entging nicht, daß die Verbeugung des Hohenpriesters diesmal noch tiefer, nahezu feierlich, ausfiel. Er bot mir einen Sessel an, wobei er mich verdutzt anstarrte.
»Du bist ja völlig durchnäßt!«
»Sie hat nie einen Regenschirm bei sich«, seufzte Sagon be-kümmert. »Eines Tages holt sie sich eine Lungenentzündung!«
Der Hohepriester ließ den Grunzton hören, mit dem die Japaner Überraschung ausdrücken.
»Keinen Regenschirm?«
Ich lächelte.
»Ewig kann der Regen ja nicht dauern.«
Er hielt mir ein Päckchen Zigaretten hin. Ich lehnte dankend ab. Daisuke knipste ein Feuerzeug an, nahm einen kräftigen Zug. Der junge Priester trat wieder in Erscheinung, stellte eine Schale grünen Tee vor mich. Ich bedankte mich; der junge Mann schlurfte hinaus; Daisuke rauchte schweigend, bis die Schiebetür zugezogen wurde. Er hielt die Zigarette zwischen den gelenkigen Fingern. Es lag viel Beherrschung in diesen Händen, viel Zartgefühl auch.
»Die Regenzeit wird hier Tsuyu genannt, das heißt ›Regen der Pflaumenbaumes da im Juni die Pflaumen wachsen‹ «, sagte er.
»Ich liebe den Regen.«
»Tatsächlich? Und wie findest du Kyoto?« fragte er mich.
»Kyoto ist schön, ne?«
»O ja«, erwiderte ich ernst. »Kyoto ist schön.«
»Aber jetzt ist die schlimmste Zeit des Jahres«, sagte Sagon.
»Erst im Juli wird das Wetter wieder sonnig und klar.«
Daisuke nickte mir bedeutungsvoll zu.
»Du solltest dir wirklich einen Regenschirm kaufen.«
»Wenn es schlimmer wird, vielleicht«, sagte ich, um ihn zu beruhigen.
»Ich meine, du mußt es bald tun.«
Lächelnd nippte ich an meinem Tee. Die
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