Seidentanz
Höflichkeit verlangte, daß wir zuerst Konversation machten. Also wartete ich geduldig, bis der Kannushi zum eigentlichen Thema kam. Als er den Aschenbecher zu sich heranzog und die Zigarette ausdrückte, merkte ich, daß der Augenblick gekommen war. Die schwarzen, scharf glänzenden Augen richteten sich auf mich.
»Ich bin bereits unterrichtet, Ruth. Aber würdest du mir bitte die Sache noch einmal erklären? Du kannst ruhig Englisch sprechen, wenn es dir lieber ist. «
Ich seufzte.
»Ja, vielen Dank. Es geht wohl nicht anders.«
Gewisse japanische Sätze und Redewendungen waren mir bereits geläufig, aber sobald es kompliziert wurde, fehlten mir die Worte. Selbst das Englisch war hier unzureichend; ich sah mich gezwungen, die ganze Empfindungsskala auf eine andere, persönlichere Weise zusammenzufassen. Das Ganze war mit seltsam gesteigerten Gefühlen verbunden; Gefühle, die ich irgendwie loswerden wollte. Während ich sprach, sah mir der Hohepriester unverwandt ins Gesicht und nickte zu dem, was ich sagte. Als ich ausgeredet hatte, bemerkte ich, daß sich an seinen äußeren Mundwinkeln einige senkrechte Falten zeigten.
Er trank einen Schluck Tee, machte dann mit der Zunge am Gaumen ein schnalzendes Geräusch.
»Als Priester frage ich mich, ob ich immer, in jeder Situation, das Richtige verstehe. Ich denke, dies ist nicht der Fall; und ich staune manchmal darüber, daß wir mit so viel Selbstsicherheit und so wenig wirklichem Wissen eine Anzahl Interpreta-tionen zulassen. Im Kulturbewußtsein der Völker begegnet uns ein jeweils besonderes Verhältnis zu der Welt der Erscheinungen. Es gibt Wahrscheinlichkeiten, die ebenso stark sind wie Gewißheiten. Doch wer gibt sich damit zufrieden?«
»Besser die Augen öffnen als Angst haben«, seufzte ich.
Sagon hob beide Handflächen empor, eine Geste ironischer Zustimmung.
»Sie meint genau, was sie sagt.«
»Ich glaube an viele Möglichkeiten«, sagte ich.
Daisuke nickte.
»Wir Japaner sagen, die Geister denken an uns, wenn wir an sie denken. Teilweise sind wir noch Menschen vor der Geburt der Unruhe. Auch Dämonen haben zwei Gesichter.«
Ich lächelte, wenn auch nur flüchtig.
»Ich weiß. Wir beten, statt zu denken.«
Daisuke lächelte jetzt auch.
»Nicht wahr? Man kann sich nicht am Wasser festhalten, um zu schwimmen; man muß ihm vertrauen.«
»Ich tauche entsprechend tief.«
Beide Männer lachten; Sagon sogar stoßweise. Plötzlich begann ich ihre Nähe sehr deutlich zu spüren; ein tiefes Gefühl für das geteilte Geheimnis ergriff mich. Schon der Gedanke daran war erregend. Schließlich sagte Daisuke:
»Ja nun, Ruth, du siehst klar. Und ich will dir sogleich etwas sagen, was du selbst erst verstehen wirst, wenn du für längere Zeit unter uns gelebt hast. Japan ist ein altes, sehr altes Land.
Der Gedanke, daß sich unsere Kultur im abgeschlossenen Raum entwickeln konnte, ist absurd, obwohl diese Fehlvorstel-lung immer wieder aufgegriffen und politisch mißbraucht wurde. Die von Tokugawa Iemitsu angeordnete Isolierzeit dauerte bloß zweihundert Jahre, geschichtlich gesehen eine kurze Zeitspanne. In Wirklichkeit war unsere Kultur seit uralten Zeiten eine Kultur des ständigen Aufbruchs, kosmopolitisch und visionär. Jahrtausendelang führten alle Wege zu Wasser und zu Land nach Osten. Die Ureinwohner Japans waren Eiszeitjäger; ihre Ahnen stammten vom Nordstern, und der Bär, den sie im Kampf erlegten, ist ihr Schutzgeist. Später kamen Seefahrer auf Pirogen aus der Südsee; Bauern aus den Monsunländern bauten Reis an. Assyrien, Griechenland und das oströmische Reich formten unsere Kosmogonie. Die geistige Begegnung mit Indien, Tibet und Siam brachte neue religiöse und philosophische Impulse. Die Verbindung zwischen China und dem Orient erfolgte über die Seidenstraße. Asiatische Steppenreiter lehrten uns das Schmelzen von Eisen, persische Seidenweber und Kup-ferschmiede ihre Kunstfertigkeit.«
Daisuke nahm einen Schluck Tee. Sagon rauchte schweigend. Ein Regenschauer prasselte an das Fenster; ein paar Zweige schlugen gegen das Dach. Der Kannushi sprach weiter:
»Was ich damit sagen will, Ruth: Unsere Theaterkunst ist uralt. Sie erwuchs aus dem magischen Tanz der Geister, der To-temtiere und Dämonen. Unsere besondere Gabe mag sein, daß wir in der Bewahrung dieses Brauchtums eine außerordentliche Beharrlichkeit zeigen. Wohl kann die Idee, der Sinn, sich verflüchtigen. Die Kraft aber bleibt.«
Ich begann zu zittern; das Zittern hatte
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