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Seidentanz

Seidentanz

Titel: Seidentanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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schien mir ei-ne Demonstration dessen zu sein, was sich vielleicht zutragen würde, wenn ich mich nicht in der Gewalt hatte. Ich mußte jetzt eine klare innere Linie finden, eine genaue Route des Verhaltens. Ich konnte mir nicht leisten, innerlich zerrissen zu sein.
    Wenn der Anblick der Maske mich so in Aufruhr versetzte –
    wie würde sie dann erst auf mich wirken, wenn ich sie trug?
    Der Gedanke erzeugte Schwindel in meinem Kopf; auf einmal begann mein Herz flügelgleich zu flattern: Es war wie beim Tanz, ich wußte nicht, welche Empfindungen das waren, Hochspannung oder Ermatten, ob ich schwebte oder versank. Wenn Daisuke mir half, gelang es ihm vielleicht, mich genügend zu stärken. Und wenn nicht? Mir kam der Gedanke, daß ich mit dieser Unruhe jetzt leben mußte. Sie konnte noch eine Weile andauern und würde vielleicht niemals enden.
    18. Kapitel
    B ei Tagesanbruch machte ich mich auf den Weg zum Schrein. Der Verkehr war noch ruhig; Geschäfte und Warenhäuser öffneten erst um zehn. Nur die ersten U-Bahnen donner-ten durch die Tunnel, rasselten über Eisenbahnbrücken. Ich ging an nassen Hauswänden, an triefenden Hecken, an Pfützen entlang. Ich trug ein weites T-Shirt über meiner locker sitzen-den Hose. Keinen Büstenhalter, keinen Slip. Aus den Turnschuhen hatte ich die Bänder gezogen. In den Cafés zischten die Kaffeemaschinen, es duftete nach frischem Brot. Ohne Frühstück war ich nur ein halber Mensch. Ich fühlte mich mißmutig und passiv, mein Gehirn funktionierte im Schongang.
    Es war noch kühl; eine blasse, zartrosa getönte Sonne schwebte durch den Nebel. Für den Abend war wieder Regen angesagt.
    Am Ende der Straße schlossen sich die Bäume wie eine dunkelgrüne Wolkenbank um den Schreinbezirk. Ich ging an der hohen Steintafel vorbei, die Stufen empor. Als ich durch das Tor trat, über die hohe Schwelle hinwegsteigend, war mir, als ob der Straßenlärm schlagartig verstummte. Unter dem Laubdach waren nur noch die Stimmen unzähliger Vögel zu hören.
    Sie zwitscherten in jedem Baum, sangen in jedem Gebüsch, hüpften im Gras, flatterten erregt durch das Dickicht; Wildtauben gurrten, und über den Baumkronen segelten die Krähen, erfüllten die Luft mit metallrauhem Kreischen. Der Boden war feucht, an manchen Stellen aufgeweicht. Nebel hingen an tropfenden Zweigen, eine silberne Lufthülle funkelte auf den Grä-
    sern. Vor dem steinernen Brunnentrog blieb ich stehen, füllte einen Schöpflöffel. Ich goß Wasser über meine Hände, spülte mir den Mund aus. Das Wasser war wunderbar kalt und schmeckte nach Pflanzen.
    Ich holte tief Atem, folgte im grünen Dämmerlicht dem gewundenen Pfad, bis ich den Platz erreichte, wo das Heiligtum stand. Außer dem hallenden Vogelgezwitscher war das Knirschen meiner Schritte auf dem Kies das einzige Geräusch. Ich ging auf den Honden zu. Die gewaltigen, eisenbeschlagenen Tore standen offen; die Säulen leuchteten karminrot, und die mächtigen Deckenbalken schimmerten wie Bernstein. Kerzen brannten in kupfernen Ständern. Die Lichtpunkte flackerten in der diesigen Luft. Schwer vor Nässe hing die Shimenawa, die Schnur der Läuterung, über dem Opferstock. Die Papierzacken waren grau und durchweicht. Langsam schritt ich die Stufen hinauf. Der hölzerne Altar stand im Schatten, Einzelheiten waren kaum erkennbar. In den glänzenden Opferschalen türmten sich Früchte und große Reiskugeln zu Pyramiden auf. Über den Reisweinfässern mit den großen Schriftzeichen schimmerte fahles Licht. Stoffbahnen in Violett und Weiß, mit einer purpurnen Seidenkordel zusammengerafft, hingen über dem Altar.
    Sie waren mit dem doppelten Wappen des Yasaka-Schreins bedruckt: der Windschraube und der Kirschblüte. Neben dem Altar erblickte ich, auf einem Ständer, ein Gohei, eine Rute aus Weißholz, an der ein Wedel aus heiligen Papierstreifen befestigt war. Jetzt, da ich ihn aus der Nähe sah, kam mir der Shintai – der »Heilige Gegenstand« – recht groß vor. Der flügelum-rahmte Spiegel in der Mitte funkelte im Frühlicht. Erneut überkam mich das seltsame Gefühl, daß der Spiegel zuckte und pulsierte, daß sich unter der gleißenden Fläche ein Lebewesen regte. Irgendwie beschränkte sich die Sonnenglut nicht nur darauf, den Spiegel zu erleuchten, sondern schwoll heran, ein goldener Lichtsee, greifbar wie Wasser, der jeden Gegenstand umspülte. Das lebhafte Wesen dieses Lichtes verbarg eine unergründliche Welt, ein Reich der Schemen und Schatten.
    Formen und

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