Seidentanz
Strukturen weit zurückliegender Zeiten flossen hier zusammen, trafen sich in diesem feurigen Kreis – dem Spiegel. Blinzelnd schaute ich nach links und dann nach rechts und bemerkte in den flimmernden Lichtwellen die Gestalt eines knienden Mannes. Ein paar Sekunden vergingen, ohne daß er sich rührte. Auf einmal erhob sich der Mann, anmutig und leicht, löste sich aus dem Schatten wie eine Erscheinung. Mein Atem setzte kurz aus, denn Daisuke Kumano trat mir nicht als Freund, sondern als Hohepriester entgegen. Ich hatte ihn zuerst als Bild wahrgenommen; ein Bild, das nahezu von allein Konturen angenommen hatte. Jetzt sah ich ihn deutlicher. Über einem Hosengewand aus steifer weißer Seide trug Daisuke einen ebenfalls weißen Überwurf, violett gefüttert, dessen Ärmel über den Boden schleiften. Seine Kopfbedeckung war schwarz, aufragend mit zwei herunterfallenden Stoffstreifen, und mit einer weißen Kordel unter dem Kinn befestigt. Er trug mit beiden Händen das fächerartige Zepter der japanischen Priester. Das Zepter war aus Eibenholz, dem ältesten und härtesten Holz dieser Erde. Daisuke hielt dieses Zepter in der vorgeschriebenen Haltung vor sich, unterhalb der Gürtellinie, wie einen erigierten Phallus. Mit kaum merkbarer Kopfbewegung bedeutete er mir, näher zu kommen. Ich ließ meine Turnschuhe von den Füßen gleiten, erklomm die zwei Stufen und betrat den Honden. Es duftete nach Weihrauch, Orangen und Holzkohle, eine intensive Duftmischung, vertraut und auf besondere Art feierlich; so riecht es in den Kirchen Südfrankreichs nach der Mitternachtsmesse. Der Boden aus wundervoll poliertem Ze-dernholz fühlte sich glatt und seidig an, wie ein lebender Körper. Er war kalt unter meinen Fußsohlen; ein Frösteln stieg mir in die Glieder. Ich näherte mich dem Priester auf zwei Schritte.
Daisukes Gesicht war starr und entrückt. Mit Augen, glänzend wie schwarze Gemmen, sah er mich an und durch mich hindurch. Fast schien er mich nicht zu erkennen. Nun schob er seinen Fächer in die Gürtelschärpe. Mit einer Handbewegung, die gerade nur die Finger aus dem Ärmel hervorschauen ließ, hieß er mich niederknien. Dann wandte er sich um, trat langsam in den Hintergrund des Honden. Er trug Tabis – weiße Fußstut-zen; bei jedem Schritt versetzte er mit einer Bewegung der Zehen seinem Gewand einen kleinen Stoß, so daß der Saum sich hob und er ausschreiten konnte. Vor einem kleinen Tischchen aus hellem Naturholz ging er geschmeidig in die Knie; verneigte sich. Dann erhob er sich mitsamt dem Tischchen und trug es lautlos und mit ausgebreiteten Armen zu mir herüber. Er kniete sich abermals hin, stellte das Tischchen genauso lautlos zwischen uns auf den Boden. Auf einem weißen Tuch lagen verschiedene Kultgegenstände: eine Trommel aus Birkenholz, ein Trommelstock, ein dünner Papierfächer, ein sichelförmiges Messer; eine schön polierte silberne Schale enthielt kleine Hobelspäne, offenbar Baumrinde. Daneben stand eine Schale mit Wasser. In einem kleinen Räuchergefäß glühte eine Handvoll Holzkohle. Daisuke verneigte sich erneut, federte auf die Fersen zurück, bevor er den Papierfächer aufspringen ließ und über die Kohlen bewegte. Die schmalen, glatten Hände, deren Knöchel unter der Haut spielten, strahlten seltsame Beherrschung und Kraft aus. Bei jeder Bewegung rauschte die schwere Seide seiner Gewänder. Nun leuchtete die Kohle orangerot auf. Daisukes weite Ärmel glitten über den Boden, als er die Baumrinde in das Räucherbecken warf. Ein trockenes Zischen, ein Knistern: Kleine Funken sprühten auf; ein süßlichherber Geruch stieg mir in die Nase. Daisuke ergriff nun das Messer; mit den Fingerspitzen winkte er mich näher an sich heran. Ich senkte den Kopf; schattenhaft schwebte seine Hand über mein Haar; so leicht und geschickt, daß ich die Berührung kaum merkte, schnitt er eine Locke ab. Er legte die Locke auf seine Handfläche; mit der Fingerspitze der anderen Hand schob er sie behutsam in die Glut. Sofort stieg ein leichter Horngeruch auf, gemischt mit dem Duft der Rinde. Während das Feuer langsam verglühte, nahm Daisuke die kleine Trommel, schlug mit dem Trommelstock einen weichen, gedämpften Ton und sang dazu.
Seine tiefe, kehlige Singweise gehörte einem Bereich an, der sich der Macht der vertrauten Rhythmen entzog und der ewigen Bewegung jener Dinge entstieg, die den Menschen unbewegt erscheinen, weil ihr eigenes Leben nur kurz ist: dem Wachsen und Absterben der Bäume, dem Zerfall
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