Seidentanz
nicht sehen, aber ich wußte, daß sie lächelte. Das stimmte mich froh. Die Klammern der Unruhe lockerten sich, der unerklärliche Anfall war vorüber. Naomi sagte:
»Wir fangen früh mit den Proben an. Ich muß jetzt gehen.«
»Rufst du mich wieder an?«
»Bestimmt. Ich verspreche es dir.«
»Bald?«
»Wir sehen uns im August, wenn ich die Wohnung aufgebe.« Ein kurzes Schweigen folgte. Ich fragte:
»Naomi, bist du sicher, daß alles in Ordnung ist?«
»Es könnte nicht besser sein«, erwiderte sie mit einem leichten Singsang in der Stimme. Ihre Worte klangen nachlässig und geistesabwesend. Es gelang ihr nicht, mich davon zu überzeugen, daß es ihr gutging. Was war mit ihr? Was spukte in ihrem Kopf herum? Sie sprach zu mir, wie aus einem anderen Land.
Und vielleicht war es wirklich besser, sie auf Distanz zu halten.
»Ja ne«, sagte sie, »bis bald!«
Ich erwiderte den zwanglosen japanischen Gruß, den Freunde untereinander tauschen. Das Wort blieb mir fast in der Kehle stecken.
»Ja ne!«
Ein Klicken: Sie hatte den Hörer aufgelegt. Erst jetzt fiel mir auf, daß wir Kunio mit keinem Wort erwähnt hatten.
Abends um elf: wieder ein Anruf. Ich übte Standtraining, versuchte meinen Atem mit Sagons Komposition in Einklang zu bringen. Die Übungen waren kompliziert, die hohen, sehr lang anhaltenden Töne ließen eine regelmäßige Atemge-schwindigkeit kaum zu. Ich mußte mich mühevoll anpassen.
Nun schaltete ich die Kassette aus, griff nach dem Hörer. Kunio.
»Ich bin wieder in Nara.«
Ich antwortete nicht sogleich. Unvermittelt überkam mich ein intensives Gefühl für die Dinge, die mich umgaben – die federnde Tatami-Matte unter meinen nackten Fußsohlen, die Form des Hörers in meiner Hand, das Schleifen der nassen Zweige draußen an der Hauswand.
»Wann bist du angekommen?« fragte ich.
»Vor zwei Stunden. Mein Vater war sehr müde. Rie hat ihn mit dem Wagen abgeholt. Ich möchte dich sehen.«
»Jetzt?«
»Der nächste Zug nach Kyoto fährt in zwölf Minuten.«
»Dann komm!«
»In einer Stunde bin ich da«, sagte er.
19. Kapitel
»D u bist anders geworden«, stellte er fest.
»Ich? Nein.«
Er stand vor mir, umfaßte mein Gesicht mit beiden Händen, sehr zärtlich, sehr bewußt, ließ die Fingerspitzen über meine Stirn, meine Wangen, meine Lippen gleiten.
»Man kann auf verschiedene Arten anders werden.«
Ich sah ihm in die Augen. Ich spürte nichts mehr von Einsamkeit, nichts mehr von der unbegreiflichen Angst dieses Morgens, die mich nach Naomis Anruf noch stundenlang verfolgt hatte. Bei ihm war Ruhe, bei ihm war Kraft. Nicht, daß ich mich schwach fühlte. Nein. Es war, als ob unsere Kräfte miteinander verschmolzen. Sein Gesicht. Mein Gesicht. Jeder betrachtete den anderen wie in einem Spiegel.
»Du bist auch anders«, antwortete ich.
»Findest du?«
Ich lächelte ihn an.
»Möchtest du Erdbeeren?«
»Wundervoll!« sagte er.
Ich ging in die Küche und holte die Erdbeeren. Ich hatte sie gewaschen und geschnitten und in Rotwein eingeweicht. Ich träufelte Zitrone auf die winzigen Scheiben und stellte die kleinen Schalen auf den Tisch.
»In Japan ißt man sie mit Schlagsahne«, sagte Kunio.
»Das ist mir zu süß.«
»Mir auch. Mit Wein sind sie am besten.«
»Da hast du etwas dazugelernt.«
Es war still im Zimmer; der Regen hatte nachgelassen. Kunio kniete aufrecht, in müheloser Haltung, entspannt. Ich betrachtete ihn im Lampenlicht.
»Es ist gut, daß du gekommen bist.«
»Ich konnte nicht mehr warten.«
»Erzähl du zuerst«, sagte ich.
Er runzelte die Stirn.
»Jedesmal, wenn ich nach Tokio komme, sehe ich eine andere Stadt. Nichts kenne ich wirklich wieder, und doch wäre es falsch, zu sagen, daß es mich beunruhigt. Städte sind wie Orga-nismen; leben sie ganz aus der Vergangenheit, werden sie melancholisch. Ich liebe Straßen, die sich verändern, Häuser, die gebaut werden. Tokio oder Osaka sind Reisende in diesem Jahrhundert; wir Menschen reisen im eigenen Leben. Und mein Vater, siehst du, ist am Ende seiner Reise. Er wollte die Orte sehen, die er geliebt, die Menschen treffen, die er gekannt hatte.
Manche seiner Freunde waren gestorben, und die Orte seiner Jugend gab es nicht mehr. Zum Glück konnte er nicht viel darüber nachdenken. Überall, wo er hinkam, war er sofort im Mittelpunkt. Oh, ja, das freute ihn, das habe ich wohl bemerkt.
Er lächelte, vielleicht mit einer Spur Eitelkeit – das steht ihm zu. Wenn man alt wird, wenn man alle Kraft
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