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Sein anderes Gesicht

Sein anderes Gesicht

Titel: Sein anderes Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Aubert
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als Gast. Linda diskutiert mit einem alten, fetten Mafioso, der in dem Ruf steht, eine besondere Vorliebe für kleine Mädchen zu haben. Sie hat geschäftlich mit ihm zu tun, denn er hat ihnen Geld geliehen. Als ich auf meine Uhr schauen will, stelle ich fest, dass ich keine Uhr mehr habe. Wahrscheinlich haben die kleinen Idioten von neulich nachts sie mir geklaut. Ich habe den Eindruck, von einem langen Trip, von einer sehr, sehr langen Reise zurückzukehren. Vielleicht ist es der reale Schmerz meines bleischweren Handgelenks, das wie Feuer brennt, und die Tatsache, dass Johnny nicht nur ein Phantom der Nacht ist. Indem ich ihm in sein Leben bei Tag folgte, bin auch ich in die Wirklichkeit zurückgekehrt. Dorthin, wo unter der Schminke die Bärte sprießen. Das erinnert mich an meinen. Als ich noch Geld hatte, habe ich eine elektrische Epilation begonnen. Als ich dann aus dem Gefängnis kam und keine Arbeit hatte, konnte ich sie nicht fortsetzen. Diese blöde Kosmetikerin hat auf der rechten Seite begonnen, so dass ich nun eine unbehaarte und eine behaarte Gesichtshälfte habe. Eine Versinnbildlichung meiner Dualität, würde der Psychiater sagen.
    Was soll ich heute machen? Auf dem Kalender an der Wand sehe ich, dass es der Zweiundzwanzigste ist. Das ist der Geburtstag meiner Großmutter. Mein letzter Besuch bei ihr liegt sicher schon sechs Wochen zurück. Ich sage Linda, dass ich in die Mansarde gehe, um mich hübsch zu machen. Ganz mit ihren Verhandlungen beschäftigt, nickt sie. Ich öffne meine beiden großen Koffer und betrachte die Fülle von Stoffen, Farben und Aufmachungen. Das ist meine Dalida, das meine Piaf, meine Tina Turner . Ich entscheide mich für ein diskretes Ensemble: eine Hose aus beigefarbenem Wildleder, eine dazu passende Wolltunika und Lackschuhe. Wegen meines Arms habe ich Mühe, mich anzuziehen, ich fühle mich unbeholfen. Ich schminke mich sorgfältig, bürste mein Haar, binde mir einen Seidenschal um den Hals und lege mir einen ebenfalls beigefarbenen Regenmantel um die Schultern. Dazu ein passender Regenschirm. Armband und Kette aus Golddouble und Handschuhe aus braunem Nappaleder, um meine Hände zu verstecken. Nun sehe ich aus wie ein Yuppie aus der Provinz, die Blutergüsse sind mit Make-up überdeckt.
    Als ich nach unten komme, pfeift Laszlo, Lindas Mann, bewundernd durch die Zähne. Diskret strecke ich den Mittelfinger in die Luft, und er amüsiert sich hinter seiner Theke. Er hat das Konzentrationslager überlebt und beschlossen, das Leben von der besten Seite zu sehen.
    Die ersten Schritte draußen sind der Test. Wenn sich niemand umdreht, wenn niemand lacht, habe ich gewonnen. Ich winke ein Taxi heran.
    Der zweite entscheidende Test: die Stimme. Dank eines verständnisvollen Arztes habe ich jahrelang Hormone genommen. Meine Stimme ist sanft und etwas belegt, natürlich recht tief, aber nicht auffallend. Die Stimme einer Raucherin. Ich habe gelernt, sie zu modulieren, hohe und tiefe Töne zu meiden. Ich sage die Adresse des Altenheims, und der Mann fährt ruhig an. Madame Ancelin macht einen Besuch.
    Meine Großmutter erkennt mich schon lange nicht mehr. Sie hält mich für Elsa, ihre Schwiegertochter. Elsa, meine Mutter. Im Altersheim Calme Bleu glaubt man, ich sei ihre Enkelin. Meiner Großmutter fehlt es an nichts, mein Vater veranlasst alles Nötige durch seinen Rechtsbeistand. In seiner Zelle braucht er nicht viel Geld. Acht Jahre habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich bin jetzt achtundzwanzig. Wenn er herauskommt, werde ich sechsunddreißig sein. Ich hoffe inständig, dass ich mein sechsunddreißigstes Lebensjahr erreiche und er vorher sterben wird. Denn ich weiß nicht, wie ich es überstehen sollte, ihn wieder zu sehen. Ich habe das Gefühl, ich würde mich einfach auflösen, und es würde nur ein kleines Häufchen falscher Fingernägel auf dem Boden zurückbleiben.
    Er wollte mir Geld geben, aber ich habe es abgelehnt. Der Anwalt überweist jeden Monat eine feste Summe auf ein auf meinen Namen eingerichtetes Konto. Ich rühre dieses Geld nicht an. Ich verkaufe meinen Körper gerne jedem, aber nicht meinem Vater: Er wird sich nie von dem loskaufen können, was er getan hat, was er mir und anderen angetan hat.
    Elsa. Mama. Sie ist gestorben, als ich sechs Jahre alt war. Sie hat sich elegant angezogen, so, als würde sie auf  Reisen gehen: Chanel-Kostüm, Kaschmirmantel, einen Louis-Vuitton-Schal. Dann hat sie das Bett mit einer Plastikplane abgedeckt, sich darauf gelegt und

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