Sein anderes Gesicht
mich hasst. Ich weiß, dass er sich gedemütigt fühlt. Dass er Angst hat, ich könnte gekommen sein, um einen Skandal zu machen. Ich weiß auch, dass ich dafür bezahlen muss. Ich möchte ihm sagen, dass ich es nicht wusste, dass ich es nicht absichtlich getan habe. Aber er wird mich nicht anhören. Er wird sagen: Na, Bo, hast du dich heute Morgen gut amüsiert? Und er wird mich bestrafen. Er wird mich schlecht bestrafen, weil er weniger Selbstvertrauen hat, weil ich sein Geheimnis kenne.
Aber vielleicht wird er sich auch schwach und furchtsam verhalten, und dann würde ich ihn nicht mehr lieben. Ich wäre frei. Erlöst.
Ich hebe die Hand, um ihn heranzuwinken. Zunächst tut er so, als hätte er es nicht bemerkt, doch die Kellnerin ist am anderen Ende des Restaurants beschäftigt, und er muss kommen.
Mit zusammengebissenen Zähnen steht er vor meinem Tisch. Mein Kopf ist auf der Höhe seines Schritts. Ich sehe die Wölbung unter dem blauen Stoff. Ich schiebe das Kinn einige Zentimeter vor, ich könnte meine Lippen darauf legen.
»Wünschen Sie noch etwas?«, fragt Johnny mit einer kalten, respektvollen Stimme, die ich nicht kenne. »Nein, danke. Die Rechnung bitte.«
Unter meinem Blick geht er durch das Restaurant und kommt mit der Rechnung zurück. Fünfundzwanzig Franc für den Kaffee. Ich bezahle mit Dianas Geld. Schweigend gibt er mir das Wechselgeld zurück.
»Das schöne Wetter hat nicht angehalten«, sage ich, vom Teufel geritten.
»Der Wetterbericht kündigt Schnee an«, entgegnet er ungerührt.
Ich stecke das Wechselgeld ein und erhebe mich, er tritt zur Seite, um mich vorbeizulassen, und da kann ich nicht widerstehen: Diskret streiche ich über die Innenseite seines Schenkels. Er läuft vor Wut rot an, ich gehe in aller Seelenruhe. Bevor ich hinausgehe, drehe ich mich um und begegne seinem Blick, der mit der grausamen Intensität eines Katers auf mir ruht, der einen Vogel außerhalb seiner Reichweite beobachtet.
Auf der Straße möchte ich lachen, Luftsprünge vollführen und Singing in the Rain trällern. Ich weiß, wo Johnny arbeitet, ich habe ihn in der Hand, ich kann ihn sehen, wann ich will. Überschwänglich küsse ich meinen Gipsverband.
Und wenn er mich nun nie wieder sehen will? Wenn er mich aus seinem Leben streicht? Ich würde jeden Tag auf der Treppe des Hotels auf ihn warten. Ich würde auf allen vieren auf dem Asphalt hinter ihm herkriechen, ihm die Blamage seines Lebens bereiten.
Um mich loszuwerden, müsste er mich umbringen.
KAPITEL 5
Mein neuer Bewährungshelfer sieht mich missmutig an. Er ist etwa fünfunddreißig, klein, hat struppiges, braunes Haar, einen Backenbart. Er trägt einen beigefarbenen Zopfpullover, gebügelte Jeans und braune glänzende Boots. Vor ihm auf dem Schreibtisch steht auf einem kleinen Schild: Theodore Morelli, auf einem anderen: Rauchen verboten und auf einem dritten: Freiheit bedeutet, sich selbst zu beherrschen. Ich bin also nicht für die Freiheit geschaffen. Er deutet mit dem Zeigefinger auf mich.
»Ich bin sicher, dass wir uns gut verstehen werden, Beaudoin.«
Auf der Stelle bin ich vom Gegenteil überzeugt.
»Solange du mir keine Märchen auftischst, werden wir beide keine Probleme haben, aber wenn ich feststelle, dass du mir was vormachst, also dann .«
Drohendes Schweigen. Ich setze ein dümmliches Gesicht auf, das haben sie gerne. Er deutet auf meinen Arm.
»Hattest du einen Unfall?«
»Ich bin die Treppe runtergefallen.«
»Hmmm .«
Er sieht sich meine Akte an, überfliegt sie seufzend.
»Ich habe nicht den Eindruck, dass du große Anstrengungen unternommen hast, um dich wieder einzugliedern, Beaudoin.«
»Es ist nicht leicht, Arbeit zu finden.« »Ehrliche Arbeit, meinst du? Wie ich sehe, hattest du schon keine sehr glückliche Kindheit, willst du dir auch den Rest deines Lebens versauen?«
Meine stummen Einwände fegt er mit einer Geste beiseite.
»Ich weiß, dass du . na, sagen wir mal . ein Problem hast. Viele Leute haben Probleme«, räumt er unter mitleidigem Kopfschütteln ein. »Aber ich will dir eines sagen, Beaudoin: Du bist ein Mann, ob du es nun willst oder nicht.«
Der offene, direkte Blick eines Nachtschattengewächses. Ich würde ihm gerne meine Nägel ins Gesicht schlagen.
»Kommt es dir nie in den Sinn, dich wie ein Mann zu verhalten? Dein Schicksal in die Hand zu nehmen?«
Zerknirschter Gesichtsausdruck bei Beaudoin, der Versuch, einem hilflosen Waschbären zu gleichen. Morelli runzelt die Stirn und fährt
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