Sein anderes Gesicht
sich die Pulsadern aufgeschnitten. Ich habe ihren Leichnam gefunden. Das weiß ich, weil man es mir erzählt hat, aber erinnern kann ich mich nicht daran. Mit dem Psychiater habe ich daran gearbeitet. Aber ich kann mich noch immer nicht erinnern.
Da meine Großmutter bei uns lebte, hat sie mich aufgezogen. Sie hat mir nie verboten, im Kleiderschrank zu kramen und die Sachen meiner Mutter anzuziehen, mich stundenlang vor meinem Frisiertisch zu schminken. Vielleicht hoffte sie, wenn ich wie ein Mädchen aussähe, könnte ich dem väterlichen Verlangen entgehen. Vor allem aber war es ihr, glaube ich, egal. Sie trank. Sie war nie betrunken, aber auch nie nüchtern. Ein wahrer Albtraum für das Personal.
Ohne dass ich es bemerkt hätte, hat das Taxi angehalten. Ich bezahle die Fahrt mit Dianas Geld. Bei einem Blumenverkäufer, der sich, so gut er kann, unter dem Wellblechdach seines Standes vor dem Regen schützt, kaufe ich einen Strauß Veilchen. Die Dame am Empfang lächelt mir zu und sagt, meiner Großmutter gehe es gut. Sie sei etwas müde. Aber das ist mit dreiundachtzig normal. »Oh, Ihr Arm, mein Gott, was ist denn passiert?« - »Die Treppe …« - »O je! So ein Pech.« - »Ja, so ist das Leben .«
Auf dem Gang, der nach Medikamenten riecht, treffe ich einen Greis, der mühsam seine Gehhilfe vor sich herschiebt. Sein Atem geht pfeifend, Tränen rinnen über seine faltigen Wangen. Ich wende den Blick ab.
Ich klopfe an die Tür des Zimmers. Keine Antwort, ich trete ein. Sie liegt in ihrem Bett, die Decke bis zum Hals hinaufgezogen, das weiße Haar zu jenem untadeligen Knoten gesteckt, so wie ich sie in Erinnerung habe. Sie wendet den Kopf in meine Richtung.
»Ich will keine Spritze.«
»Ich bin es, Elsa. Hier .«
Ich reiche ihr die Blumen. Sie betrachtet sie, dann lächelt sie.
»Das Veilchen im Moose ist besser als die stolze Rose«, rezitiert sie mit kindlicher Stimme.
Ihr Vorname ist Violette, das Veilchen. Ich küsse sie auf beide Wangen, und sie legt ihre Hand auf meinen gesunden Arm.
»Du musst ihn verlassen, Elsa.«
»Ich weiß, mach dir keine Sorgen.«
»Er ist gefährlich. Er …«
Sie beendet ihren Satz nicht, verdreht die Augen, die Hände verkrampfen sich. Erinnert sie sich daran, dass sie sich durch ihr Schweigen zur Komplizin meines Leides gemacht hat, bis ich mich schließlich mit sechzehn Jahren aus dem Staub gemacht habe? Erinnert sie sich an die Schreie und das Schluchzen ihres Enkels, des bleichen, zitternden Kindes, das sich unter den Möbeln verkroch? Ich richte mich auf und nehme auf einem Plastikstuhl Platz. Die Tür öffnet sich, und die Oberschwester kommt herein. Ich mag ihre gekünstelte Fröhlichkeit, ihren allwissenden Gesichtsausdruck nicht.
»Ah, Madame Ancelin! Wie gefällt Ihnen unsere Violette?«, erkundigt sie sich.
»Etwas welk«, sage ich geziert.
Das verschlägt ihr die Sprache. Sie räuspert sich.
»Vorgestern war sie ein wenig müde, aber jetzt geht es schon besser. Heute Mittag hat sie gut gegessen und ihre Tabletten genommen, jetzt wird sie sich ausruhen.« »Nun, da bin ich ja zufrieden«, bestätige ich. Sie erstarrt leicht, nimmt an, dass ich mich über sie lustig mache.
»Gut, ich lasse Sie allein .«
Schon ist sie draußen. Ich lache in meine Barthälfte. Violette stöhnt unter den weißen Laken. Ich ergreife ihre alte, faltige Hand.
»Alles wird gut«, sage ich. »Alles ist gut, mach dir keine Sorgen.«
»Er wird in die Hölle kommen!«
Ich weiß nicht, ob sie von mir oder von meinem Vater spricht. Ich glaube, meine Existenz hat sie schlichtweg vergessen.
»Beaudoin umarmt dich.«
»Der Metzger?«
»Nein, nicht der Metzger. Beaudoin, dein Enkel, dein hübscher kleiner Bo. Erinnerst du dich an Bo?«
»Er ist nicht hübsch. Er ist hässlich. Geh! Ich will ihn nicht sehen!«
Ich seufze. Ein schönes Seufzen, tief und traurig, der Kameliendame würdig. Auf der Nussbaumkommode an der Wand stehen gerahmte Fotografien. Meine Mutter, die im Cocktailkleid lächelnd neben einem glänzenden Porsche steht. Meine Großmutter mit kaum ergrautem Haar und einem hübschen Baby auf dem Arm. Das hübsche Baby einige Jahre später mit langen Locken, in einer Latzhose, eine Barbie-Puppe ans Herz gedrückt. »Wie niedlich Ihre Enkelin war, Madame Ancelin«, sagt die Pflegerin immer wieder.
Wenn ich das letzte Foto betrachte, bekomme ich jedes Mal einen bitteren Geschmack im Mund. Er. Im grauen Anzug vor seinem Empire-Schreibtisch, eine Hand auf meine Schulter
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