Sein anderes Gesicht
Dringenderes.
Vielleicht hat ihn ein alter Kunde geschickt oder jemand, dem ich Geld schulde, und beides interessiert mich gerade nicht.
Ich steige die Stufen zum vierten Stock hinauf, klopfe bei Johnny. Keine Antwort. Ich klopfe bei Bull.
Dieses Mal öffnet sich die Tür, doch wie in einem Fernsehkrimi ist niemand zu sehen. Ein kurzer Blick in den Saustall, der ihm als Zimmer dient: leer. Lautlos bewege ich mich vorwärts und stoße die Tür zur winzigen Küche mit Dusche auf. Da ist er. Über die Spüle gebeugt, als würde er sich übergeben.
Ich rufe ihn beim Namen, er dreht sich nicht um. Beunruhigt berühre ich seine Schulter.
Er kippt langsam nach hinten, und ich spüre, wie meine Augen immer größer werden. Er übergibt sich tatsächlich. Tomatensauce. Sehr rote Tomatensauce, zu rot und … o mein Gott . es ist Blut.
Der irrwitzige Gedanke, dass er womöglich auf Grund meiner gestrigen Schläge eine innere Verletzung erlitten hat, schießt mir durch den Kopf. Ich fühle Panik in mir aufsteigen. Ich versuche, ihn zu halten, doch er ist unglaublich schwer. Sein glasiger Blick und all das Blut.
Mit nur einem Arm schaffe ich es nicht, ihn festzuhalten: Er fällt gegen den gelben Resopaltisch, und ich gehe mit ihm zu Boden. Dann sitzt er auf den schmutzigen Bodenfliesen. Was soll ich tun? Er hat kein Telefon, und ich traue mich nicht, ihn allein zu lassen. Er verdreht die Augen, das Blut läuft, einen bitteren Geruch ausströmend, aus seinem Mund. Ich überlege, ob er vielleicht irgendeinen neuen Stoff ausprobiert hat. Irgendein Verschnitt, der ihn umbringt.
»Bull! Bull, hörst du mich?! Hast du was genommen?«
Er schließt die Augen, um meine Frage zu verneinen.
Plötzlich packt er mich am Arm, versucht zu sprechen und erstickt beinahe.
»Beweg dich nicht! Ich hole Hilfe. Was ist passiert?«
Er streckt die Hand nach etwas aus, doch nach was? Ich sehe mich genau um. Das übliche Durcheinander: verschmutzte Turnschuhe, eine angebrochene ColaFlasche, ein Schlagring, Anabolika, ein Baseballschläger, ein Stück Shit, ein Kalender vom letzten Jahr . Ich drehe mich ratlos zu ihm um. Ich bin mir bewusst, dass jede Sekunde zählt und dass ich bis jetzt noch nichts getan habe.
Eine dicke, schmutzig-rosafarbene Blase zerplatzt auf seinen Lippen. Er sieht mich an, als hinge er an meiner Hand fünfzehn Stockwerke über dem Abgrund und drohe, unwiderbringlich in die Tiefe zu stürzen. Ich öffne den Mund und schließe ihn wieder. Er stammelt: »Ich habe . ich habe ihn gesehen … den Raum.« Zuckend krallen sich seine Finger in meinem Ärmel fest, er bäumt sich auf und gibt ein Röcheln von sich, das mich erstarren lässt. Erneut ein Schwall Blut und dann . nichts mehr, kein Blick, kein Bull. Ein toter Büffel, dessen glasige Augen mich unverwandt anstarren. Alles ist voller Blut: meine Hände, mein T-Shirt, meine Wange. Ich stehe langsam auf. Er sackt in sich zusammen, und sein Kopf schlägt mit voller Wucht auf den Boden. Binnen einer Millisekunde ist mir klar, dass er sich verletzt haben muss. Wie ein Keulenschlag trifft mich dann die Wahrheit: Bull ist tot!
Und ich befinde mich - blutüberströmt - in seiner Wohnung. Vor diesem Blut ekel ich mich genau so, als wäre es tatsächlich Erbrochenes.
Panisch ziehe ich meinen Pullover aus, drehe den Wasserhahn weit auf, wasche mir die Hände und auch das Gesicht, so gut das mit einer Hand geht. Das Blut rinnt in den Ausguss - wie in einem Hitchcock-Film.
Ich spritze mir Spülmittel auf die Hände und wasche meinen Pullover aus, bis mir klar wird, dass ich unmöglich mitten im Winter mit einem klatschnassen Pullover auf die Straße kann. Die Tatsache, dass Bull tot hinter mir liegt, jagt mir Angst ein. Hektisch drehe ich mich ständig nach seinem Leichnam um - als fürchte ich, dass er sich bewegt oder sich mit einem irren Grinsen auf einmal erhebt.
Ich laufe in sein Zimmer, durchwühle seine Klamotten und schnappe mir einen marineblauen Sweater mit MickyMaus-Bild. Der linke Ärmel klemmt am Gips. Mit einem Ruck reiße ich ihn ab. In der Wohnung nebenan hat jemand die Anlage bis zum Anschlag aufgedreht und hört Will Smith. Jetzt könnte ich gut ein paar Men in Black gebrauchen, um wieder etwas Ordnung in der Welt zu schaffen. Vor allem in meiner.
Ich betrachte mich im Spiegel: okay, das geht. Ich wische einen roten Fleck neben meinem Ohr weg. O nein, der verdammte Gips! Er ist blutbespritzt. Der muss runter! Ich suche überall herum, bis ich eine große
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