Sein anderes Gesicht
diese Kategorie gehört. Ich lege mich lieber hin.
Mit der Vorstellung, wahrscheinlich nicht schlafen zu können, werfe ich mich aufs Bett.
KAPITEL 9
Wie spät ist es? Ich habe solchen Hunger, dass ich mich fühle, als hätte ich ein Loch an der Stelle, wo sonst mein Magen sitzt.
Lautes Stimmengewirr, alle Tische sind besetzt. Die Uhr über der Theke zeigt vierzehn Uhr. Ich habe zwölf Stunden durchgeschlafen! Linda bringt mir, ohne lange zu fragen, eine Portion Nudeln mit Aioli und ein Glas Rose. Etwas steif setze ich mich auf einen Eckplatz an der Theke und esse den Teller leer, trinke einen Cognac zum Abschluss. Ich fühle mich deutlich besser. Wie ein russischer Prinz nach einem anständigen Festmahl.
Gut, wieder ein Tag, den ich überstehen muss. Eine Galgenfrist, bis die Leute des Pastors mich höflich auffordern, ihnen zu folgen. Ich habe nicht mal einen Anwalt. Den einzigen, den ich kannte, war der meines Vaters. In der Öffentlichkeit stets bereit, die Fälle der Witwen und Waisen zu vertreten, um sie dann insgeheim zu Gunsten seiner reichen Mandanten über den Tisch zu ziehen. Und wenn ich Derek einen kleinen Besuch abstatten würde? Vielleicht ist er inzwischen ja wieder bei Bewusstsein. Wer weiß, was er mir Interessantes zu erzählen hat.
Im Krankenhaus marschiere ich geradewegs in den B-Flügel, den ich gut kenne. Ich bin schon oft hier gewesen, um Kranke im Endstadium zu besuchen. Dank meines Gipsverbands kann ich mich ohne aufzufallen frei im Krankenhaus bewegen. Ich betrete die Intensivstation. Eine Familie geht nervös im Flur auf und ab, ihre Gesichter sind verschlossen, die Hände nervös verkrampft. Eine Krankenschwester eilt den Korridor entlang. »Derek Prysuski?« - »Zimmer 234.« Sie geht zum Ende des Gangs und verschwindet in einem Zimmer, aus dem ein durchdringendes Klingeln ertönt.
Ich öffne die Tür von Zimmer 234. Derek liegt mit offenem Mund auf dem Rücken. Sein Gesicht ist kreidebleich. Ich trete einen Schritt auf ihn zu. Er sieht mich ohne jede Reaktion an. Da ich nicht weiß, ob er schon aus dem Koma erwacht ist, frage ich zaghaft: »Derek?«
Keine Antwort.
Ich lege meine Hand auf seinen Arm. Keine Reaktion.
Ich sehe auf den Monitor, der plötzlich zu piepsen anfängt. Eine grüne, flache Linie zieht über den Bildschirm. Er ist tot!
Fluchtartig verlasse ich das Zimmer, denn ich will auf keinen Fall hier sein, wenn die Krankenschwester aufkreuzt. Ich gelange über die Nottreppe in den nächsten Stock, mache die Tür auf und remple mit einem Typen zusammen, der auf den Fahrstuhl wartet. Große Statur, weißes Haar. Verdammter Mist, der Pastor! Ich mache die Tür wieder zu und renne die Treppe hinunter. Ich höre, wie die Tür sich öffnet und eine Stimme verwundert »Ancelin?« ruft. Ich antworte nicht, sondern sause wie der Blitz in die Eingangshalle und laufe durch die großen Glastüren ins Freie. An der Haltestelle steht ein Bus. Im letzten Moment, als der Fahrer gerade losfahren will, springe ich hinein. Der Pastor kommt im gleichen Augenblick auf den Parkplatz gestürmt und sieht sich suchend um. Ich mache mich auf meinem Sitz ganz klein. Das hätte mir gerade noch gefehlt, dass man mich auch für Dereks Tod verantwortlich macht.
Ich bleibe bis zur Endstation im Bus sitzen. So komme ich zu einer kleinen Spazierfahrt. Ich mag die Farben, wenn der Wind weht. Dann sieht die Stadt wie von van Gogh gemalt aus.
Um mich von der ganzen Aufregung zu erholen, gönne ich mir anschließend eine kleine Pause im Internet-Cafe. Axelle sitzt vor einem der Bildschirme.
»Sick!«, ruft sie mir zu, als sie mich sieht.
»Bist du krank?«
»Nein, Sick, so heißt ein Film. Sadomaso-Happenings. Scheint gut zu sein.«
Ich beuge mich über ihre knochige Schulter. Sie stinkt, als hätte sie sich mit einem Raumluftspray eingesprüht. Mir schießt der Gedanke durch den Kopf, dass sie eigentlich eine perfekte Porzellanpuppe abgäbe. Sie hat unsere übliche Website angeklickt, auf der ein Dokumentarfilm über das Leben von Bob Flanagan angekündigt wird. Er starb im Alter von dreiundvierzig Jahren an Mukoviszidose und hat vorher so ziemlich jede Form des freiwilligen Leidens ausprobiert.
»Sollen wir uns den ansehen?«, fragt sie, während sie über ihr Implantat streicht.
»Gern. Hast du eine Zigarette für mich?«
»Nein. Du siehst merkwürdig aus«, meint sie und kneift die Augen zusammen, um mich genauer betrachten zu können. »Es ist, als … ich weiß nicht, als ob du nicht
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