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Sein anderes Gesicht

Sein anderes Gesicht

Titel: Sein anderes Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Aubert
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Schere gefunden habe, und quäle mich mit dem Mistding ab. Ein stechender Schmerz fährt mir bei der kleinsten Bewegung durch Mark und Bein, aber ich mache weiter. Ich bin darauf gedrillt, immer schön weiterzumachen, egal, wie weh es tut.
    Schließlich beende ich mein Werk und zerre wie ein Verrückter an dem Gipsverband. Er bricht auf, und ich werfe einen Blick auf mein geschwollenes Handgelenk. Es tut so weh, verdammt, tut das weh! Ich halte mir den Arm, während ich mich vor Schmerzen vor und zurück wiege und mir immer wieder sage: »Bull liegt tot auf dem Küchenboden.«
    Die Tabletten in meiner Hosentasche! Ich werfe drei  Stück ohne einen Schluck Wasser ein. Es wird höchste Zeit, dass ich von hier verschwinde.
    Ich stopfe die Gipsstücke und meinen nassen Pullover in einen leeren Pizzakarton und gehe.
    Ich lausche: Niemand ist im Treppenhaus. Den Arm gegen die Brust gepresst, schleiche ich mich nach unten. Der Pizzakarton scheint eine Tonne zu wiegen.
    Auf der Straße habe ich das Gefühl, dass mich alle anstarren. Ich habe keine guten Karten. Ich kannte Maeva, ich kannte Bull; sie starben im Abstand von vierundzwanzig Stunden . Ganz zu schweigen von meinem Besuch bei Derek! Der Pastor wird sich auf mich stürzen.
    Ich werfe den Pizzakarton in einen Müllcontainer und laufe einfach so herum, vollkommen benebelt. Ich sehe Bulls Gesicht vor mir, seinen Mund, aus dem das Blut quillt wie in einem Horrorfilm. Ich muss merkwürdig aussehen, denn die Leute wenden den Blick ab.
    Ich schleppe mich bis zur nächsten Apotheke. Dort kenne ich einen der Laboranten. Normalerweise gibt er mir verschreibungspflichtige Medikamente auch ohne Rezept, doch heute Abend brauche ich etwas anderes: einen neuen Gips. Ich kann ihn auf mich aufmerksam machen, und er zieht mich in eine ruhige Ecke hinter dem Regal mit den Präservativen. Ich zeige ihm mein Handgelenk. Leise redet er empört auf mich ein:
    »Du bist total verrückt, geh sofort ins Krankenhaus!«
    Ich sage nein, er sagt nein, ich bleibe hartnäckig, er sagt ja. Treffpunkt in einer Stunde an der Bushaltestelle.
    Ich gehe auf direktem Weg dorthin und setze mich auf eine Bank neben einen Penner in einem abgetragenen Mantel, der, ein Schild mit der Aufschrift »Für Essen, danke« zu seinen Füßen, ins Leere starrt. Busse halten an und fahren weiter. Die Leute stoßen das Schild um und glotzen es mit großen Augen an, nur selten ist das Klingeln von Münzen zu hören. Den verletzten Arm fest an mich gepresst, wiege ich mich sachte vor und zurück. Der Penner fängt an, mir sein Leben zu erzählen. Ich schüttle den Kopf: »Nein, danke, heute Abend wirklich nicht.« Er brabbelt was von »Scheiß Schwule« und geht, um ein Schwätzchen mit dem Maroniverkäufer zu halten.
    Ströme von Menschen mit erschöpften Gesichtern steigen ein und aus, müde Witze, vom Alter, durch Fast Food und mangelnde Bewegung deformierte Körper. Sie ziehen durch mein Blickfeld, überlagern meine Bilder von Bulls Körper und Maevas blutbeschmiertem Wohnzimmer. Wusste Bull tatsächlich etwas? Ich habe … den Raum gesehen. Welchen Raum? Und sein Gefasel von den Bürgersteigen, die sich blutrot färben würden .
    Wenn Bull tatsächlich etwas gewusst hat, dann .
    In der Ferne ertönt die Sirene eines Krankenwagens. Das Geräusch kommt näher. Gefolgt von einem Polizeiauto, fährt der Krankenwagen an mir vorbei und biegt nach links ab. Jemand hat den Leichnam entdeckt. Johnny?
    Am liebsten möchte ich hinterherlaufen und nachsehen, was los ist, doch ich warte, ich brauche unbedingt diesen Gips. Endlich erscheint Marco, wir gehen in die Tiefgarage und richten uns hinter einem Mercedes 250 SE ein. Er untersucht meine Verletzung, äußert noch einmal seine Bedenken, streut Puder auf die Wunde und schmiert um mein Handgelenk eine Gipsbinde, die er mit Mineralwasser angefeuchtet hat.
    »Wenn das daneben geht, wächst der Knochen schief zusammen und du bist behindert.«
    »Dann habe ich mehr Chancen beim Betteln.«
    Seufzend schüttelt er den Kopf. Die meisten meiner Bekannten haben es aufgegeben, sich über mich aufzuregen.
    »So, das wär's«, meint er schließlich.
    Er gibt mir eine Schachtel Tabletten.
    »Pass bloß auf, die sind stark. Hoffentlich kommst du damit über die Runden.«
    »Das hoffe ich auch. Was schulde ich dir?«
    »Wie gehabt«, sagt er und streichelt meine Hand.
    Als ich wieder an der frischen Luft bin, gehe ich schnurstracks zu dem Haus, in dem Bull und Johnny wohnen. Der Krankenwagen

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