Sein anderes Gesicht
sie auf dem Gang wartete, hatte ihr ein großer, schwarzer, sexy aussehender Polizist vorgeschlagen, einen Kaffee mit ihm trinken zu gehen, und sie nach ihrer Telefonnummer gefragt. Mossa, dieser Hund!
Der Tee ist fertig, ein grüner Tee mit viel Zucker, der mir, als ich ihn trinke, in der Speiseröhre brennt. Sie öffnet eine Schachtel mit Teegebäck, und wir kauen, bis auf einige zusammenhanglose Bemerkungen, schweigend unsere Kekse.
»Morgen muss ich um sechs Uhr aufstehen! Ich werde vollkommen erledigt sein. Ich muss ständig an Bull denken .«
»Versuch, an etwas anderes zu denken.«
»Danke für den Tipp, aber das ist nicht so leicht. Wenn du ihn gesehen hättest, würdest du das verstehen .«
Ich verstehe sie sehr gut, aber ich kann es ihr nicht sagen. Ich drücke ihr tröstend die Hand.
»Du solltest dich hinlegen. Ich räume auf.«
»Ach, das ist nicht nötig. Wenn du willst, kannst du auf dem Sofa übernachten.«
»Ich gehe wieder zu Linda.«
Sie sagt nichts, doch ich merke, wie angespannt sie ist.
»Es sei denn, du möchtest heute Nacht nicht allein sein .«
»Es wäre mir lieber, du würdest bleiben.«
»In Ordnung, dann musst du mir nur irgendein T-Shirt leihen.«
Ich bekomme ein großes, blassblaues mit Bugs-Bunny-Aufdruck. Zehn Minuten später liegen wir im Bett: Sie in ihrem Zimmerchen mit Dusche, ich im Wohnzimmer, das auch als Büro dient. Vielleicht höre ich Johnny ja nach Hause kommen .
KAPITEL 10
Ich schrecke im Dunkeln hoch und mache Licht: Es ist sechs Uhr. Farida ist gerade aufgestanden, ich höre sie in der Küche. Ich bin gestern sofort eingeschlafen - als wenn ich ein Schlafmittel genommen hätte. Und genauso fühle ich mich auch: benommen. Ich bleibe zwischen den frischen Laken liegen. Mein Handgelenk ist ebenfalls aufgewacht und macht sich bemerkbar. Ich gebe ihm sein Frühstück: zwei Tabletten. Durch die Wand dringen die kleinen, Geborgenheit vermittelnden Geräusche des Lebens. Wenn ich, anstatt abzuhauen, zur Uni gegangen wäre . Mein Vater wollte, dass ich Medizin studiere, so wie er. Ich war ein glänzender Schüler mit guten Noten, der zu den größten Hoffnungen Anlass gab. Doch es wäre hoffnungslos geworden, wenn ich dort geblieben wäre. Der Tod als einziger Ausweg. Ich war jung, ich wollte leben. Ich glaubte wahrhaftig, dass ich leben wollte. Ich bin gegangen. Prostitution, jämmerliche Kabaretts, Hormonbehandlungen, Kostüme, Pläne, der enge Kreis, in dem ein hybrides Geschöpf sich bewegen kann.
Bei dem Wort Kreis strömen unweigerlich die Bilder wieder auf mich ein, die Atempause war nur von kurzer Dauer. Jesus-Marlene auf der Bahre, Maeva in ihrem Wohnzimmer, Derek in seinem Bett, Bull in seiner Küche, und Blut, Blut, überall Blut . Wenn es nicht Maeva war, die den Namen an die Wand geschrieben hat, dann muss es der Mörder gewesen sein. Und das bedeutet, dass er mich kennt. Ich komme nicht weiter. Offensichtlich ist er hinter mir her. Sprich, ein Typ, der mit dem Messer und dem Hackbeil so gekonnt umgeht wie andere mit dem Kugelschreiber. Er hat es auf mich abgesehen. Wirklich rosige Aussichten für den heutigen Tag! Aber da ich masochistisch veranlagt bin, dürfte mich das nicht weiter beunruhigen. Doch die Leute verwechseln stets den Wunsch, sich selbst Schmerzen zuzufügen - und sei es durch eine andere Person -, mit der Tatsache, dass irgendein Idiot sich das Recht herausnimmt, einem anderen zu seinem eigenen Vergnügen Schmerzen zu bereiten.
Ich gehe alles noch einmal von Anfang an durch. Irgendjemand bringt eine russische Prostituierte mit einem Hackbeil um. Dann muss eine belgische Prostituierte dran glauben. Es folgt Jesus-Marlene, die aus Portugal stammt. Ich spreche mit Maeva über das Ganze, die aus Tahiti ist. Sie erzählt mir, sie habe als Letzte Marlene lebend gesehen, mit einem Kerl, dessen Gesicht man nicht erkennen konnte, an dem es aber sonst nichts Auffälliges gab, sprich, er war weder buckelig noch zwergenwüchsig, er hinkte nicht und war auch kein Hüne, nicht dick, nicht dünn. Einfach irgendein Kerl. Und in der gleichen Nacht wird Maeva mit mehreren Messerstichen getötet, und man findet meinen Namen an der Wand ihres Wohnzimmers. Am Nachmittag des nächsten Tages stirbt im Krankenhaus Derek Prysuski, ein Polizist polnischer Abstammung, doch der zählt nicht, weil dieser Todesfall kein Mord war.
Wo bin ich stehen geblieben? Ach ja, gestern Abend bei Linda, die jüdischer Abstammung ist, erzählt mir Bull, ein Italiener, etwas
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