Sein anderes Gesicht
Bus köstlich amüsieren. Ich weiß nicht, woran es liegt, dass mich die Leute an manchen Tagen für eine Frau und an anderen für einen Transvestiten halten. Ist ihr Instinkt an extrem sonnigen Tagen schärfer als sonst? Es stimmt schon, dann sind die Schatten viel auffälliger, und dadurch treten Kiefer- und Wangenknochen stärker hervor. In Gedanken versunken, verpasse ich beinahe die Haltestelle.
Stephanie lebt in einem Hochhaus im Westen der Stadt und arbeitet bei Fiat Uno, was ihr Probleme einbringt, wenn sie in eine Kontrolle kommt. Ich habe ihr schon oft geraten, sie solle endlich umziehen, aber sie ist in diesem Viertel groß geworden, es ist ihr Zuhause, und sie hängt an der Gegend. Sie lebt zusammen mit ihrer Mutter in einer Dreizimmerwohnung mit Blick auf die Hügel. Wie Maeva ist Stephanie immer als Frau gekleidet, doch die meisten Leute nehmen das nicht ernst. Mit ihrem blonden Haar, der üppigen Oberweite, die sie durch in der Taille geknotete Hemdblusen zur Geltung bringt, einer Fünfziger-Jahre-Brille und eng anliegenden Röcken kultiviert sie den Marilyn-Monroe-Mythos. Die Typen sind völlig vernarrt in diese verführerische, kleine Blondine, die, wenn sie sich auszieht, ihre Männlichkeit durch ein beachtliches Kaliber unter Beweis stellt. Das behauptet zumindest Mossa.
Ihre Mutter macht mir auf.
»Bo! Wie geht es dir, mein Liebes? Komm herein, fühl dich ganz wie zu Hause! Stephanie, es ist Bo!«, ruft sie laut, um den Lärm des Föns, der aus dem Badezimmer dringt, zu übertönen.
Wir küssen uns zur Begrüßung auf die Wange, sie befühlt meine Hüften, findet mich viel zu dünn und stößt einen entsetzten Schrei aus, als sie meinen eingegipsten Arm sieht. Ich tische ihr meine Version auf. Meine kleinen Lügen durchschauend, verschwindet sie kopfschüttelnd in der Küche, um Kaffeewasser aufzusetzen.
Stephanie kommt im Morgenmantel aus dem Bad. Sie hat eine Flasche Nagellack in der Hand und ihre obligate schwarze Brille auf der Nase. Wir nehmen auf der dreisitzigen, beigefarbenen Lederschlafcouch Platz, die sie ihrer Mutter zu Weihnachten geschenkt hat. Genau gegenüber steht der zwölftausend Franc teure Fernseher, auf dem auf einem bestickten Spitzendeckchen das Schwarzweißfoto eines ausgezehrten Mannes steht. Das ist Stephanies Vater, ein Algerier, der für das Tiefbauamt gearbeitet hat. Als sie acht Jahre war, wurde er durch einen herabfallenden Betonblock getötet. Wenn man Stephanie fragt, was ihr Vater von Beruf war, antwortet sie stets voller Stolz: »Er hat Autobahnen gebaut.« Alles hier hat so gar nichts mit den Gefühlen zu tun, die ich für meine Familie empfand. Hier ist für Hass, Angst, Zorn und zwiespältige Gefühle kein Platz.
»Ich mache euch ein Stück Quiche warm«, ruft Peppina.
Als ich das erste Mal hierher kam, konnte ich gar nicht glauben, dass es zwischen ihr und Stephanie keine Probleme gab. Es ging über meinen Horizont, dass eine Frau, die einen kleinen Stephan mit Bürstenhaarschnitt großgezogen hat, ohne Entrüstung oder Ekel ansieht, wie sich ihr Junge urplötzlich in ein Pin-up-Girl verwandelt. Doch es war ganz offensichtlich: An dem Tag, an dem Stephanie ihrer Familie verkündete, dass sie eine Frau sein wollte - was sage ich?, dass sie in ihrem Innern eine Frau war - und dass dies ihr Schicksal sei, hob Peppina lediglich die Arme gen Himmel und sagte: »Wie du willst, mein Engel.« Ihre drei Brüder hatten etwas mehr Schwierigkeiten, damit klar zu kommen, dass der Jüngste auf einmal Hüfthalter trug und sich ein paar wunderschöne Brüste wachsen ließ, doch heute ist das ausgestanden, der Sonderling ist akzeptiert, und bei Familienfesten schaukelt Tante Steph ihre Neffen und Nichten auf den Knien. Die Familie Boucebsi könnte Werbung machen für die Integration von Menschen, die eine Geschlechtsumwandlung haben vornehmen lassen. Hin und wieder versuche ich einen Hauch Boshaftigkeit oder Niedertracht in diesem Idyll aufzuspüren: bisher ohne Erfolg.
Kaum haben wir uns gesetzt, fängt Stephanie an, sich die Fußnägel smaragdgrün zu lackieren.
»Ich habe meiner Mutter nichts gesagt«, flüstert sie mir zu.
Ich sehe sie fragend an.
»Von Maeva«, erklärt sie mit leiser Stimme. »Es ist schrecklich. Ich will nicht, dass sie davon erfährt, sonst kriegt sie Angst.«
Ich nicke. Peppina kommt mit der Kaffeekanne und zwei riesigen Stücken Mangold-Quiche herein. Wir sollen nur ordentlich zugreifen, meint sie und verschwindet in der Küche, um sich
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