Sein anderes Gesicht
mich gesucht. Und Bull hat die Reise ins Nirwana angetreten.
Ich verlasse die Altstadt und gehe die Uferpromenade entlang. Es ist kalt, der Wind trägt Staub, Sand und Gischt durch die Luft. Pulsierender Schmerz im Handgelenk, der nicht aufhören will. Ich gehe, den Arm fest an den Brustkorb gepresst. Der Geschmack von Salz auf meinen Lippen. Mein Micky-Maus-Sweatshirt hält die Windböen nicht ab, die vom Meer herüberwehen. Weiße Schaumkronen auf dem schwarzen Meer. Ich gehe.
Keine Sterne, ein wolkenverhangener Mond, das Tosen der Wellen, die sich am Strand brechen. Ich fühle mich müde und traurig. Ich gehe weiter.
Schließlich kehre ich zum Haus zurück. Ich setze mich in den Flur, der vertraute Geruch nach Katzenpisse und vollen Abfalleimern steigt mir in die Nase. Ich lehne meine Schulter gegen die Mauer, das lindert ein wenig die Schmerzen. Wenn man bedenkt, dass es kaum zwei Stunden her ist, dass die Krankenpfleger Bulls Leichnam über diese Treppe nach unten getragen haben. Ich habe das Gefühl, in einem trüben Strudel unterzugehen, und vor dem Ertrinken gibt es kein Entrinnen. Natty, Marlene, Maeva, Bull - in kaum vier Tagen vier Tote, von denen ich drei sehr gut kannte. Das Mädchen, das vor zwei Monaten umgebracht wurde, nicht mitgerechnet, und auch nicht Derek und seinen Gashahn. Ein organisierter Angriff des Sensenmanns. Zurückzuführen auf ein besonderes Mikroklima oder eine generelle Veränderung des ökologischen Gleichgewichts?
Hier drinnen ist es nicht so kalt. Manchmal kommt Johnny zwei oder drei Tage nicht nach Hause. Kein Mensch weiß, wo er dann steckt und was er macht. Ich stelle mir vor, er ist auf der Jagd wie eine Raubkatze, die nachts frei herumläuft. Meine Augen brennen vor Müdigkeit, die Tabletten gegen die Schmerzen machen mich schläfrig. Für ein paar Sekunden die Augen schließen .
»Bo! Wach auf!«
Farida …
»Was machst du denn hier im Treppenhaus?«
»Ich warte auf Johnny.«
Sie schüttelt mitleidig den Kopf.
»Komm, ich mach dir einen Tee.«
Ich stehe auf. Meine Gliedmaßen sind gefühllos. Tausende ausgehungerter, roter Waldameisen krabbeln unter meinem Gips. Ich folge ihr die Treppe hinauf, meine Augen sind starr auf die altmodischen, blauen und weißen Fliesen gerichtet. Eine zertretene Schabe auf der zwölften Stufe. Eine halb gerauchte Zigarettenkippe auf der sechzehnten. Noch eine fette schwarze Schabe auf der dreißigsten. Zerknülltes Taschentuch zwischen dem zweiten und dritten Stock. Eine Coladose auf dem Treppenabsatz zum vierten Stock. Ein kleiner Haufen Zigarettenkippen vor der Tür des Stuhlflechters: Er raucht stets im Flur, warum auch immer. Vielleicht, weil heutzutage niemand mehr seine Stühle bespannen lässt. Oder vielleicht hat er Angst, dass das Stroh Feuer fangen könnte.
Wir kommen im sechsten Stock an.
Farida schließt die Tür auf und bittet mich herein. Sie wohnt in einer winzigen Zweizimmerwohnung unterm Dach. Alle Wände sind mit Postern von Fußballern tapeziert, denn ihr Bruder spielt in der örtlichen Mannschaft. Jedes Mal, wenn er mich sieht, wird er ganz verlegen, ist ansonsten aber ein lieber Kerl.
Sie setzt Wasser auf und erzählt mir mit angespanntem Gesichtsausdruck, wie ihr Abend verlaufen ist.
Sie hat endlos lang auf dem Kommissariat warten müssen, weil sich in einer vornehmen Villa in den Hügeln ein vierfacher Mord ereignet hat. Ein treusorgender und liebender Gatte hat seine Frau, die sich scheiden lassen wollte, erschossen und unmittelbar danach seine drei Kinder. Anschließend hat er das Jagdgewehr gegen sich gerichtet, aber sein Selbstmordversuch missglückte. Merkwürdig, wie viele Typen in der Lage sind, jedem x-beliebigen, der mehr als drei Meter von ihnen entfernt steht, eine Kugel durch den Kopf zu jagen, und es dann nicht schaffen, ihren eigenen Schädel zu treffen. Die Geheimnisse der Ballistik.
Kurz, die Bullen waren in hellem Aufruhr, umso mehr, weil einer ihrer Kollegen am Nachmittag im Krankenhaus das Zeitliche gesegnet hatte und sie für einen Kranz sammelten. Vor diesem Hintergrund war Bulls Fall nicht von großer Dringlichkeit, vor allem, weil man noch nicht wusste, wie er gestorben war.
Sie glaubte, verstanden zu haben, dass Hauptkommissar Luther auf einen Unfall tippte, ausgelöst durch die illegalen Anabolika, die Bull sich in Amsterdam besorgte und die ihm ohne weiteres den ersten Preis bei einem landwirtschaftlichen Wettbewerb in der Kategorie Bullenmast hätten einbringen können.
Während
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