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Sein anderes Gesicht

Sein anderes Gesicht

Titel: Sein anderes Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Aubert
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wieder um ihren gefüllten Lammbraten zu kümmern. Stephanie setzt ihre Brille ab, und ich sehe, dass sie dunkle Ringe unter den Augen und verquollene Lider hat, als hätte sie viel geweint. Und ich? Ich habe nicht eine Träne vergossen. Ich weine selten. Kann ich überhaupt noch weinen? Alles in mir ist wie ausgedörrt. Ich lege meine Hand auf ihren Arm. Sie schnieft ein bisschen, während sie hartnäckig ihre Fußnägel weiterlackiert.
    »Es ist einfach so ungerecht! Sie war ein so herzensguter Mensch!«
    »Ich weiß. Ich war bei ihr, an dem Nachmittag, bevor sie … wir haben uns unterhalten, denn wir hatten gerade von der Sache mit Marlene erfahren.«
    »Ja, eine nach der anderen! Man traut sich bald nicht mehr, zur Arbeit zu gehen.«
    »Sie hat mir erzählt, dass sie Marlene an dem Abend, an dem sie getötet wurde, noch gesehen hat.«
    »Ach ja? Ich war in San Remo, weißt du, mit dem Libanesen .«
    Der Libanese ist ein reicher Freier von ihr, der sie in Luxushotels und vornehme Restaurants einlädt und großen Spaß daran hat, gegen die guten Sitten zu verstoßen. Der heimliche Traum Stephanies ist es, ihn nach ihrer Operation zu heiraten.
    »Wenn ich da gewesen wäre«, meint sie weiter, »wäre vielleicht nichts passiert.«
    »Was willst du damit sagen?«
    »Ich will damit sagen, dass weder Marlene noch Maeva hätten sterben müssen. Vielleicht wäre ich an diesen Irren geraten. Vielleicht wäre ich jetzt tot. Oder wir hätten alle genau in dem Augenblick beschlossen, einen Kaffee trinken zu gehen, und keiner von uns wäre etwas passiert: Oh! Ich hab dieses Leben so satt, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr .«
    Ich nicke mitfühlend, doch ich weiß genau, dass das im Grunde nicht stimmt. Der Reiz der Nacht, der Straße, des »Ausbrechens« lässt sich nur schwer ersetzen. Und außerdem, »anders«, buchstäblich ein Monster zu sein, auf das man mit dem Finger zeigt und das angestarrt wird, führt dazu, dass man sich als Außenseiter fühlt, jenseits der Regeln, Normen und Gesetze. Fast schon wie ein Ungeheuer von der Kirmes, das die Leute fasziniert betrachten. Nicht umsonst verschiebt Stephanie immer wieder ihre Operation. Und ich? Worauf warte ich? Warum arrangiere ich mich mit diesem schwierigen Zustand? Wovor habe ich Angst?
    »Und was treibst du so? Man sieht dich gar nicht mehr«, sagt Stephanie gerade. In ihren Augen schimmern noch ein paar Tränen, weil wir von Maeva gesprochen haben.
    »Ich bin vorsichtig geworden. Ich möchte nicht wegen irgendeiner Dummheit wieder in den Knast wandern.«
    »Ha, sieh einer an! Hallo, Bo! Ich bin es, nicht dein Bewährungshelfer.«
    »Er ist tot, hat Selbstmord begangen.«
    »Verdammter Mist!«
    Wir schweigen beide einen Moment, dann brechen wir in schallendes Gelächter aus - ein verrücktes, nervöses und ansteckendes Lachen.
    »Worüber lacht ihr denn?«, fragt Peppina aus der Küche.
    »Nichts Bestimmtes, einfach nur so!«, antwortet Stephanie, nach Luft japsend.
    »Ach, die Jugend!«, philosophiert Peppina.
    »Und wie läuft es mit deinem Typen, Johnny? Du scheinst dich ja ganz schön in die Sache reinzuhängen …«, meint Stephanie.
    »Er steht nicht auf Männer.«
    »Gut, du bist ja auch kein richtiger Mann.«
    »Doch, ich bin einer, wenn du verstehst, was ich meine.«
    »Lass ihn sausen«, sagt sie schließlich. »Mit dem handelst du dir nur Ärger ein.«
    »Hör mal, Steph, hast du dich je gefragt, was du nach der Operation machen würdest? Denn alle Kerle, mit denen du schläfst, wollen zwar jemanden, der aussieht wie eine Frau, im Bett aber ein Mann ist. Sobald du also operiert wärst, müsstest du ganz von vorn anfangen.«
    »Also wirklich! Verdammt, Bo! Du kannst einem wirklich den Rest geben«, ruft sie. »Ich bin gerade erst aufgestanden!«
    Sie schenkt sich eine Tasse Kaffee ein, und ich nehme ein abgegriffenes Büchlein in die Hand, das auf dem Couchtisch liegt. Knigge: Über den Umgang mit Menschen. Das Papier und der Druck wirken, als sei das Buch aus den zwanziger Jahren.
    »Ich habe es in einem Antiquariat entdeckt«, erklärt mir Stephanie. »Es ist total witzig.«
    Ich blättere ein wenig in dem Buch herum und lese die zufällig aufgeschlagene Seite mit lauter Stimme vor: »Vor allem für das schöne Geschlecht ist es unerlässlich, sich stets schicklich zu benehmen. Denn man wird eine Frauensperson immer danach beurteilen, ob sie sich bei den unterschiedlichsten Anlässen an die Etikette hält; daher ist einwandfreies Benehmen von

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