Sein anderes Gesicht
macht.
Nur undeutlich ist das Geräusch hupender Autos zu vernehmen. Die Wohnung muss sehr gut schallisoliert sein. Krampfhaft suche ich nach einem Gesprächsthema.
»Eigentlich bin ich gekommen, um mit ihm über seine Freundin Maeva zu sprechen.«
»Maeva?«
»Eine Freundin von mir, die kürzlich umgebracht wurde.«
Schweigen, dann:
»Und was hat Jonathan damit zu tun?«
»Wir meinen beide doch den gleichen Jonathan, oder?«
»Das weiß ich nicht, meine Liebe. Wie ist denn Ihr Jonathan?«
»Er ist Kellner im Ambassador.«
Ein leichtes Flattern der Augenlider.
»In diesem Fall sprechen wir von der gleichen Person. Aber Jonathan ist sehr verschlossen. Ich weiß nur wenig von seinem Leben.«
»Aber er lebt doch hier, nicht wahr?«
»Wenn man so will.«
Eine wahrhaft sibyllinische Antwort. Kann es sein, dass Jonathan, kaum dass er seinen Fuß über die Schwelle setzt, zu Jeröme wird? Ich trinke einen Schluck, mein Mund ist ganz trocken, ich könnte nicht einmal sagen, wie der Whisky schmeckt. Ich suche nach einem neuen Angriffspunkt.
»Wann kommt er zurück?«
»Das weiß ich nicht.«
Noch einen Schluck Whisky. Und wenn er etwas hineingetan hat? Aber nein, das hier ist schließlich kein James-Bond - Film. Bei James Bond befände sich in meinem rechten Ohrring ein Granatwerfer, und ich würde mich nicht fragen, was es mit meinem immer intensiver werdenden unguten Gefühl auf sich hat. Ich habe eine Idee.
»Leben Sie hier mit Jonathan zusammen?«
»Die meiste Zeit, ja. Da Sie so neugierig sind … wollen Sie vielleicht sein Zimmer sehen?«
»Gerne, wenn es Ihnen keine Umstände macht?«
»Ganz im Gegenteil.«
Er erhebt sich, leert sein Glas und drückt sorgfältig seine Zigarre in einem Jadeaschenbecher aus. Ich habe Angst. Ich stehe auf. Ich fühle mich merkwürdig. Ich weiß nicht mehr, woran ich bin. Ich verspüre das zwingende Verlangen, von hier zu verschwinden. Ich will nicht wissen, wer Jeröme Klein ist. Ich will gehen.
Ich gehe nicht.
Ich folge ihm zu einer geschlossenen Tür aus weißem Holz, die mit einer großen Metallklinke versehen ist. Irgendetwas stimmt nicht an dieser Tür. Sie ähnelt einer »Bitte, treten Sie ein.«
Sie ähnelt einer … o mein Gott! … der Tür eines Kühlraums!
Sein heiteres Gesicht, seine Lippen, die sich zu einem schlangenähnlichen Zischen verziehen. Johnny! Nein!
KAPITEL 13
Mir tut der Kopf an der Stelle weh, auf die er mich geschlagen hat. Die Wunde, die ich mir zugezogen hatte, als ich gegen die Straßenlaterne schlug, muss wieder aufgeplatzt sein. Es fühlt sich feucht und klebrig an. Mir ist kalt. Es ist stockfinster. Ich setze mich im Dunkeln auf. Ich schlottere vor Kälte. Krampfhafte Zuckungen, die ich nicht kontrollieren kann, durchlaufen meinen Körper. Ich ziehe die Jacke ganz fest um mich und versuche, nicht mit den Zähnen zu klappern. Blut rinnt mir warm über die Stirn. Ich sehe nichts. Die Dunkelheit ist undurchdringlich. Ich befinde mich in einem fensterlosen Raum. Es herrscht totale Finsternis. Ich berühre den Boden: er ist gefliest. Die Wand: gefliest. Ein dunkler, gefliester Raum, der hermetisch verschlossen ist.
Und eiskalt. Ein Kühlraum. Johnnys Raum.
Das ist nicht möglich. Ich bin wirklich eine komplette Idiotin. Ich schließe die Augen und rede mir ein, dass ich das Ganze nur träume. Meine Augenlider öffnen sich von allein. Denk nach, Bo, denk nach, lass dich nicht von den verrückten Gedanken überwältigen, die dir in deinem jetzigen Zustand durch den Kopf schießen. Das Problem ist, wenn ich anfange nachzudenken, erscheint mir plötzlich alles sonnenklar …
Satzfetzen fallen mir wieder ein.
Farida: »Er trug Jeans.«
Johnny: »Hast du Bull nicht mit dem Baseballschläger zu Tode geprügelt?«
Stephanie: »Er wollte uns was zu trinken spendieren.« Der Pastor: »Louisette Vincent erinnert sich an einen blonden Mann mit blauen Augen, der Maeva häufiger besuchen kam.«
Ich schließe die Augen und sehe die Ereignisse in einem ganz neuen Licht. Es will mir mit aller Macht über die Lippen, so dass ich fast mit lauter Stimme vor mich hin spreche. Johnny erwähnte mir gegenüber den Baseballschläger. Den Baseballschläger, mit dem er zuvor Bull getötet hat. Ja, als wir uns an jenem Abend auf der Straße begegneten, hatte er gerade einen Mord begangen. Und ich habe nichts gesehen, nichts gespürt. Kein Flackern in seinen Augen, keine Donnerschläge am Firmament. Oh, die erstaunlichen Vorzüge der Masken, die wir
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