Sein anderes Gesicht
vor Kälte.
Der Bauchraum ist bis zu den Brüsten geöffnet. Offen und leer.
Ich krümme mich zusammen, um diesem Anblick zu entgehen. Dabei schlägt mein Kopf gegen einen der Schuhe, und der Leichnam dreht sich langsam um seine eigene Achse. Das Gesäß und der Rücken weisen Schwellungen auf. Langes blondes, offenes Haar hängt zwischen den Schulterblättern herab. Ich schließe die Augen und werde sie nie mehr aufmachen.
Ich öffne die Augen doch wieder. Entlang des Halses eine kastanienbraune Kruste, und über einem abscheulich verzogenen Mund starren mich die Augen von Elvira an.
Ich rolle mich auf dem Boden zusammen und schlage mit der Stirn auf die Fliesen.
Nun sehe ich auch die Metzgerwerkzeuge an der Wand, sehe das getrocknete Blut in der Abflussrinne, rieche das verfaulende Fleisch.
Ich weiß, dass ich in Johnnys geheimes Territorium vorgedrungen bin. Er hat die letzte Stufe erreicht, die, mit der auch mein Vater liebäugelte: den Kulminationspunkt des Wahnsinns!
Ich krieche in meine Ecke zurück, kauere mich in den entferntesten Winkel, verberge mein Gesicht zwischen den Knien. Ich bin acht Jahre alt, und der Schmerz wird kommen. Ich bin zehn und spüre, wie ich mich verkrampfe, wenn der Schmerz kommt. Ich bin zwölf, und ich liebe den Schmerz. Ich bin vierzehn und kann alles, ohne auch nur das geringste Anzeichen von Schwäche zu zeigen, ertragen. Ich bin achtundzwanzig, und mir läuft beim Anblick dieses Leichnams der Rotz aus der Nase. Ich will ihn nicht sehen.
O Johnny, hör auf, hör auf, ihnen wehzutun! Nimm mich, mich, die zu nichts nutze ist, vergnüge dich an meinem Fleisch, vierteile mich, doch lass die anderen in Ruhe!
Seit Stunden sitze ich wie ein Häufchen Elend schlotternd in der Ecke, Fieber und Kälte vermischen sich, machen mich benommen. Es fällt mir immer schwerer, die Augen offen zu halten. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Elvira mich ansieht. Ihre starren Augen sind auf mich gerichtet, ihr Mund ist zu diesem nicht enden wollenden Schrei geöffnet.
Das blaue Licht ist erloschen. Ich bin mit Elvira in der Dunkelheit allein. Ich schlafe immer häufiger und immer länger ein. Ich träume. Doch wovon? Ich erinnere mich nicht. Wenn ich doch nur träumen könnte, dass es warm ist, dass ich bei Linda und in Sicherheit bin, dass wir Champagner trinken mit Maeva und den Mädchen, dass Elvira in ihrem für sie typischen Latex-Outfit in die Straße einbiegt. Doch das gelingt mir nicht. Meine Träume jagen mir Angst ein, lassen mich schwer atmend und mit vor Entsetzen gesträubten Haaren hochfahren, doch ich kann mich an nichts erinnern.
Ich bin in dem dunklen Zimmer meiner Kindheit, außerhalb der Zeit, außer Reichweite, praktisch außerhalb des Lebens.
Das Bewusstsein meiner selbst reduziert sich auf die Empfindungen meines Körpers. Als ich meine pergamentähnlichen Lippen auf meinen Arm lege, weiß ich, dass ich einen Arm habe, Haut, Lippen. Alles andere hat sich in der Kälte aufgelöst. Bo? Jemand, den ich kannte. Sie ist gegangen. Weit weg. Ich bin nicht mehr Bo. Ich bin ich. Ein Pulsieren.
Ein merkwürdiges Gefühl. Mit Mühe öffne ich die Augen. Gleißendes Licht blendet mich. Die Augenlider schließen. Sie ganz langsam wieder öffnen. Mein Kopf liegt auf einem haarigen, cremefarbenen Etwas. Einem Hund? Es riecht nicht nach Hund, es atmet nicht. Ein Teppich. Ich kann die Beine eines Sofas und blank polierte Schuhe erkennen. Die Schuhe werden mir sicher gleich ins Gesicht treten, ich beiße die Zähne zusammen, aber die Schuhe rühren sich nicht vom Fleck.
Es ist warm! Das ist das merkwürdige Gefühl. Die Hitze.
Neben meiner Wange spüre ich Wasser. Von dem Eis, das schmilzt. Eine Hand in einem blauen Lederhandschuh packt mich am Kragen und hebt mich wie ein Bündel schmutziger Wäsche hoch. Meine Beine sacken weg. Ich werde auf das Sofa geworfen, mir bleibt fast die Luft weg. Ich sehe hoch: »Jeröme Klein« steht vor mir.
Er trägt seinen marineblauen Hausmantel, darunter ein weißes Hemd und anthrazitfarbene Hosen. Seine Hände, die in blauen Lederhandschuhen stecken, ruhen auf seinen Knien wie zwei zahme Vogelspinnen. Ich versuche, meine Gedanken zu ordnen, mich zu sammeln. Wegen des grellen Lichts muss ich immerzu blinzeln. Meine Gliedmaßen brennen wie Feuer, denn das Blut fängt an zu pulsieren. Ich sehe die Frostbeulen auf meinen Händen. Der Schmerz in meinem Handgelenk ist nur noch eine ferne Erinnerung, denn nun läuft glühende Lava unter meinem
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