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Sein anderes Gesicht

Sein anderes Gesicht

Titel: Sein anderes Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Aubert
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möglich. Alles war miteinander verwachsen wie meine vor Schmerz zusammengebissenen Zähne.
    Weil Bull diesen Raum gesehen hat, ist er tot. Und auch ich werde sicherlich sterben.
    Ich lehne mich, die Arme eng um meinen Oberkörper geschlungen, vor Kälte schlotternd an die Wand. Irgendetwas in diesem Zimmer riecht. Ich schnuppere. Es ist ein schwacher, aber unangenehmer Geruch. Er erinnert mich an den Vogel, der mal in meinem Zimmer starb, ohne dass ich es merkte, weil er unter meinem Bett versteckt lag. Ein süßlicher Geruch.
    Wird er mich hier erfrieren lassen? Eine Statue aus Eis am Ufer des Mittelmeers. Angeblich spürt man nichts, wenn man erfriert. Man schläft ein. Pervers, wie er ist, wäre er durchaus in der Lage, mir einen schmerzhaften Tod zu schenken.
    Ich habe Angst.
    Angst, in dieser kalten Dunkelheit zu sein. Angst, nach und nach das Bewusstsein zu verlieren, wohl wissend, dass ich niemals mehr aufwachen werde. Angst, zu wissen, dass ich gerade meine letzten lichten Momente erlebe, dass es dunkel werden wird, drinnen wie draußen. Zum ersten Mal in meinem Leben fürchte ich mich nicht vor dem, was man mir antun wird, sondern davor, dass ich nichts mehr spüren werde.
    Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier bin. Man hat mir weder etwas zu essen noch zu trinken gebracht. Ich bin eingeschlafen, aufgewacht, wieder eingeschlafen . Mir wird klar, dass auf keinen Fall die kälteste Temperatur eingestellt sein kann, denn sonst wäre ich schon tot. Man hat sie gerade so niedrig eingestellt, dass mir entsetzlich kalt ist. Ein Kühlraum in einem Luxusappartement. Wozu? Hinter der Antwort auf diese Frage kann sich nur  etwas Entsetzliches verbergen.
    Ich zwinge mich, mich systematisch zu bewegen, mich hinzustellen und Kniebeugen zu machen: hundertmal. Armekreisen: hundertmal. Liegestütze: hundertmal. Ich versuche, die Sekunden zu zählen, die Minuten, doch ich komme durcheinander.
    Ich konnte es nicht länger aushalten, ich habe auf den Boden uriniert, anfangs war es ein angenehm warmes Gefühl, doch dann wurde es eisig. Ich rutsche an der gefliesten Wand ein Stück weiter. Inzwischen habe ich großen Durst. Wenn ich meinen Speichel schlucke, brennt es im Hals. Meine Lippen fühlen sich wie alte Pappe an. Ich bin schwach geworden. Es fällt mir immer schwerer, meine Übungen zu machen. Ich zittere kaum noch. Ich spüre die Kälte bis in die Knochen, und gleichzeitig glüht meine Haut. Ich habe bestimmt Fieber.
    Mein Haar ist mit Eiskristallen überzogen.
    Es ist, als würde man am Ufer des Meeres im Schnee sterben. Will er mich verhungern lassen? Ohne ein letztes Mal mit mir gesprochen zu haben? Ohne dass ich ihn ein letztes Mal sehen darf? Oh! Der Wunsch des bei lebendigem Leib Eingeschlossenen, seinen Henker noch ein letztes Mal zu sehen!
    Mossa hatte Recht: Ich werde meinen dreißigsten Geburtstag nicht mehr erleben. Meine Großmutter wird keine Besuche mehr von Elsa bekommen. Ich werde meinen Vater niemals wieder sehen. Diana wird zu Prinz Charles sagen: »Merkwürdig, es ist schon einige Zeit her, dass ich die kleine Bo gesehen habe . « Linda wird weinen und denken, mir sei etwas zugestoßen. Stephanie wird sicher eine neue Freundin finden. Ich bin sowieso zu nichts nütze. Mein einziger Lebenszweck bestand doch darin, für Johnnys Unterhaltung zu sorgen, oder?
    Ein surrendes Geräusch. Die Tür? Nein, leider nicht! Mit einem Knistern springt ein schwaches bläuliches Licht an der Decke an. Ich blinzele. Der Raum ist in ein milchiges Dämmerlicht getaucht. Hat er es eingeschaltet, um mir Hoffnung zu machen?
    Zum ersten Mal sehe ich mich um, blicke unter meinen eisverkrusteten Wimpern hervor. Es ist tatsächlich ein Kühlraum mit einer Abflussrinne, die an den Wänden entlangläuft, mit Rohren, einer gefliesten Hackbank. Und einer Rinderhälfte, die mir gegenüber an einem Haken hängt.
    Außer dass Rinderhälften keine Pumps tragen.
    Mein Herz bleibt stehen, schlägt wieder weiter. Ich will es nicht sehen. Doch ich schaue hin, krieche auf allen Vieren hinüber wie ein Tier, und wie ein Tier hebe ich ängstlich den Kopf.
    Als Erstes sehe ich geschwollene Knöchel voller blauer Flecke, dann die Beine. Sie haben keine Farbe mehr, sondern ähneln eher schmutzigem Plastik. Die Oberschenkel weisen tiefe, aschfahle Einschnitte auf. Dichtes, braunes Schamhaar, mit Eiskristallen überzogen.
    Ich zwinge mich, weiter nach oben zu schauen. Ich höre, wie meine Zähne unkontrolliert aufeinander schlagen, doch nicht

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