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Sein Anteil

Sein Anteil

Titel: Sein Anteil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Wuchold
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Touristen vorbei.
    Am Ausgang zur Duke Street genoss Willem den kurzen Augenblick, in dem ihm ein livrierter Portier devot die Tür öffnete. Er bog in die rechte Hälfte der Jermyn Street ein und betrat »Crockett and Jones«, wo er gewöhnlich seine Schuhe kaufte. Seit langem liebäugelte er mit einem Paar sandfarbener Wildlederboots, die er nach kurzer Anprobe erstand. Schnell entschlossen kaufte er noch in der Filiale von »Hackett’s« einen Pullover in einem kräftigen warmen Rot. Ein paar Häuser weiter verführte ein Sonderangebot bei »Lewin’s« Willem zum Kauf dreier Hemden.
    Ein Blick auf die Uhr: In knapp zwanzig Minuten fing die erste Filmvorstellung im Swiss Center am Leicester Square an. Er wollte sich »Cyrano de Bergerac« anschauen, der im »Evening Standard« angekündigt wurde. Zügig marschierte er zum Piccadilly Circus, den er unbeachtet hinter sich ließ.
    Der Eingang des Kinos lag in einer kleinen Nebenstraße links vom Leicester Square, etwas versteckt hinter einem Geschäft mit Schweizer Uhren. In der Vorfreude, gleich für zwei Stunden in eine in Bildern, Sprache und Spiel vollkommene Gegenwelt zu entschwinden, bestieg Willem den Fahrstuhl hinauf zum Saal. Nur im Kino hegte er Empfindungen, die er in der Welt draußen nicht einmal zu unterdrücken brauchte, weil er sie nicht hatte. Hier liebte, lachte und weinte er mit der Hingabe, die er sonst für nichts und niemanden aufbringen konnte. Wut war das einzige echte Gefühl, zu dem er sonst fähig war. Doch auch die zeigte er selten.
    Nach der Vorstellung kehrte Willem nach Hause zurück. Er breitete seine Einkäufe vor sich aus und war zufrieden.

 
9
     
     
     
    Wegen des schönen Wetters schien jeder in guter Stimmung zu sein. Auf den Bänken unterhielten sich die Menschen heiter und angeregt. Diejenigen, die allein saßen, blinzelten lächelnd in die Sonne. Willem ging zuerst am Denkmal Lord Hollands vorbei, dann um den Kyoto Garden herum Richtung Spielplatz. Er setzte sich auf den Rasen, direkt in die steil stehende Sonne, legte sich bald ausgestreckt hin und schlief ein.
    »Lass das, Stupid! Lass das, Stupid! Komm sofort her!« Mehr unbewusst als bewusst nahm Willem eine aufgeregte Mädchenstimme wahr. »Stupid! Nein, habe ich gesagt. Komm sofort hierher!«
    Irgendetwas Feuchtes spürte er an seinem Ohr, und er roch etwas Unangenehmes. Willem öffnete die Augen und erschrak. Ein Hund, ein junger Golden Retriever, schnüffelte an ihm herum. Auch das Mädchen, das immer noch »Lass das, Stupid!«, rief, war nun ganz nah. Es fasste den Hund am Halsband, um ihn von Willem wegzuziehen. Doch der Hund schnüffelte weiter, fand dann aber eine neue Fährte, der er quer über den Rasen folgte. Noch bevor er wusste, wie er auf die Situation reagieren sollte, war das Mädchen mit einem »Entschuldigung« aus seinem Blickfeld verschwunden. Willem hatte es sogleich erkannt.
    Vorsichtig schaute er sich um. Er konnte Hewitt nirgendwo entdecken. Er stand auf, strich mit der Hand über seine Hosenbeine, als wollte er Grashalme entfernen, und zog sein sandfarbenes Leinenjackett über, auf dem sein Kopf gelegen hatte. Er schaute sich noch mal genauer um. Aber nur das Mädchen sah er wieder. Es rannte auf der anderen Seite der Wiese, achtzig oder sogar hundert Meter von ihm entfernt, immer noch dem Hund hinterher.
    Doch Hewitt war weit und breit nicht zu sehen. Stattdessen fiel ihm eine Frau auf, die auf einer der Bänke saß. Ihre Haltung wirkte völlig unnatürlich. Sie hatte sich nicht an die Bank angelehnt, sondern hielt den Rücken durchgedrückt, kerzengerade. Ihre Hände wiederum lagen flach auf ihren Beinen, knapp oberhalb der Knie. Wie eine Sphinx sah sie aus, beinahe unlebendig. Ihr schmales ovales Gesicht schien völlig ebenmäßig. Nur ihren kleinen, aber vollen Mund umspielte ein bittersüßer Zug tiefer Enttäuschung. Doch was ihm am meisten auffiel, waren ihre Haare, eine Haarpracht aus blonden Locken, die sie mit einem dunkelblauen Samtband lose zusammengebunden hatte. Trotz Jeans und einer einfachen hellblau-weiß karierten Bluse strahlte sie eine Eleganz aus, als ob sie gerade für ein Modejournal posierte.
    Willem näherte sich ihr langsam, vorsichtig, als würde er ganz zufällig in ihre Richtung gehen. Da kam Hewitts Tochter angelaufen und baute sich vor der Frau auf.
    »Langweilst du dich nicht?«
    Es war das Mädchen, das die Frage stellte. Willem hatte es deutlich gehört. Sie musste also Anne-Marie sein, Hewitts Frau und die

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