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Sein Anteil

Sein Anteil

Titel: Sein Anteil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Wuchold
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dass es sich auch bei den Anschuldigungen gegen meinen Mann, Henry Hewitt, um eine fein gesponnene Intrige handelt, die zum Ziel hat, die Existenz meines Mannes und meiner Familie zu zerstören.«
    Mit trauriger, aber gefasster Miene dankte Anne-Marie den »Ladies und Gentlemen von der Presse« für ihre Aufmerksamkeit, drehte sich um und verschwand im Haus.
    Für einen Augenblick war Willem wie benommen. Er wusste nicht, was er von dem spektakulären Auftritt halten sollte. Er hatte doch die ganze Affäre Hewitt aufmerksam verfolgt, die Berichte aller großen englischen Zeitungen gelesen. Nirgendwo war die Rede davon, dass Lady Anne-Marie an den Machenschaften ihres Mannes beteiligt sein könnte. Warum dementierte sie einen Verdacht, den es gar nicht gab?
    Die Antwort erhielt er am nächsten Morgen. Fast alle Zeitungen brachten auf Seite eins das Bild von Lady Hewitt, auf dem sie, vor ihrer blauen Haustür stehend, fast schüchtern in die Kameras schaute. Das einfache graue Kleid und der schlichte weiße Kragen, das blonde, streng zurückgekämmte Haar, ihr ernster Blick aus ihren grünen Augen – alles an ihr strahlte Unschuld und Anmut aus. »Eine Frau kämpft um ihre Familie« und »Tapfere Lady Anne-Marie wehrt sich gegen böse Gerüchte« und ähnlich lauteten die Bildunterschriften. Natürlich!
    Willem hätte darauf früher kommen können. Den Auftritt hatten sich Hewitt und seine spitzfindigen Anwälte ausgedacht. Ein Ablenkungsmanöver. Henry Hewitt hatte seine Frau benutzt. Das Bild seiner schönen blonden Frau sollte die Berichterstattung über die jüngste Entwicklung in der Affäre bestimmen, und nicht, wie Henry Hewitt vom Gericht die Anklageschrift entgegen nehmen musste. Der Coup war gelungen. Und er lieferte Willem einen weiteren Grund, Henry Hewitt abgrundtief zu hassen.
     
     
    Beim Aufwachen dachte er daran, dass er am nächsten Sonntag Pia und Nikita wieder sehen würde. Immer noch hatte er keinen Plan, wie sie die Entführung durchführen könnten. Die Schule, die die Tochter der Hewitts besuchte, war keine fünf Minuten von seinem Stammcafé entfernt. Dort ging Willem hin. Vielleicht würde er hier einen Anhaltspunkt finden. Der Unterricht musste ungefähr vor zweieinhalb Stunden begonnen haben. In der schmalen Gasse war es ruhig. Auch auf dem Schulhof tat sich nichts. Er stellte sich vor, wie die kleinen Mädchen in ihren grauen Röcken und blauen Blazern aufmerksam dem Unterricht folgten.
    Als Kind hatte er die Schule gehasst. Er hatte Angst gehabt zu versagen und dem Zorn der Lehrer ausgeliefert zu sein. Seine Einstellung änderte sich erst in den höheren Klassen des Gymnasiums. Auch wenn er kein überragender Schüler war, so kam er dort mit den meisten Lehrern gut zurecht. Auch mit den meisten Klassenkameraden. Auf dem Gymnasium war immer etwas los gewesen. Und man war nie allein.
    Sollte er warten? Aber worauf? Das Schultor war verschlossen. Und die Idee, ein Kind während der Pause vom Schulhof zu zerren, wäre sowieso absurd. Er würde sich lächerlich machen, einen solchen Vorschlag Pia und ihrem Russen zu unterbreiten. Sollte er warten, bis Anne-Marie Patricia abholte? Er kannte den Ablauf nun. Und konnte ihn Pia und dem Russen schildern. Hatte er sich den Namen der Schule bereits notiert? »Our Lady of Victories«. Er schrieb ihn sich auf, zur Sicherheit.
    Es war immer noch schwül. Zu Hause wäre es verhältnismäßig angenehm gewesen. Aber Willem konnte nicht ruhig in seinem Zimmer bleiben, tagsüber schon gar nicht. Missmutig schlenderte er weiter zur Gloucester Road, die das ganze Jahr über von Touristen belebt wurde. In der Nähe gab es viele zweit- und drittklassige Hotels, die dennoch horrende Preise verlangten. London war teuer und wurde immer teurer. Das hatte er bereits in den beiden Jahren, die er hier lebte, feststellen müssen. Er sah von weitem das Natural History Museum. Er hatte Leute davon begeistert reden gehört. Willem hatte es selbst noch nicht besichtigt. Er war an Naturwissenschaften nicht interessiert. Er wollte es sich aber anschauen, ein andermal, irgendwann.
    Auf der anderen Seite der Cromwell Road wandte er sich nach links und bog gleich rechts in einen schmalen Fußgängerweg ein. Er führte zu kleinen gepflegten Straßen, die sich parallel zur Gloucester Road entlang schlängelten. Hierhin kamen nur zufällig Touristen. Niedliche Kutscherhäuser wechselten sich mit eleganten Appartementgebäuden ab, in denen viele Diplomaten leben mussten, wie Willem

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