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Sein Anteil

Sein Anteil

Titel: Sein Anteil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Wuchold
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Angst, Angst davor, Nikita könnte sich erheben und ihn mit seinen starken weißen Armen umschlingen. Willem wich zurück.
    Pia war am Vorhang stehen geblieben.
    »Will, komm zurück, bitte!«, sagte sie beinahe sanft.
    »Können wir ihm wirklich nicht helfen?«
    »Nein, wir können ihm nicht helfen. Es ist zu spät.« Er hob Nikitas rechten Arm auf das Bett. Er war ganz kalt, eisigkalt, so kalt, dass Willem ihn beinahe fallen gelassen hätte. Aber es war noch Leben in ihm. Willem fühlte, wie Nikitas Puls raste. Dann legte er eine Decke über Nikitas muskulösen Körper, mehr aus Scham denn aus Mitgefühl. Nur sein Gesicht und seine Arme ließ er frei. Er verließ das Schlafzimmer, und Pia zog hinter ihm den Vorhang wieder zu.
    Pia und Willem wagten es nicht, sich anzuschauen. Eine diffuse Schuld machte sie verlegen. Eine beklemmende Stille erfüllte den Raum. Nicht einmal Nikitas unregelmäßiges Atmen war hinter dem schweren Vorhang zu hören. Willem glaubte es dennoch zu vernehmen, ganz leise nur. Denn er wusste, dass Nikita dahinter lag, langsam sterbend. Und es gelang ihm nicht, so sehr er sich auch bemühte, sich Nikita aus dem Raum wegzudenken.
    Pia stieg die zwei Stufen zur Küche hinab, machte sich dort zu schaffen, ließ Willem allein zurück. Dann ging sie ins Bad. Sie würde doch nicht verschwinden? Sich einfach aus dem Staub machen und ihn mit dem sterbenden Riesen zurücklassen? Er traute sich nicht, nach ihr zu sehen oder nach ihr zu rufen. Er strengte sich an, irgendeine Bewegung von ihr zu hören. Die Tür zum Bad wurde wieder geöffnet. Tassen wurden hingestellt, kochendes Wasser eingefüllt. Nein, Pia verließ ihn nicht.
    Sie kam zurück, drückte ihm wortlos eine Tasse mit heißem Tee in die Hand. Pia setzte sich auf die Couch, Willem in den weißen Loom-Chair ihr gegenüber. Beide umklammerten ihre Tassen, als seien sie gerade aus der Kälte gekommen und müssten sich nun wärmen. Pia zündete sich eine Zigarette an, auch er bediente sich an der Packung, die offen auf dem Tisch zwischen ihnen lag, ganz automatisch. Pia stand kurz auf, um die Vorhänge vor den Fenstern zurückzuziehen. Die Sonne brach herein. Sie öffnete die Fenster. Unten auf der Straße fuhr gerade ein Wagen vorbei.
    Warum stand er nicht einfach auf und ging zur Tür hinaus? Pia könnte ihn nicht aufhalten. Es war Samstagvormittag. Nicht weit von hier, in der Oxford Street, pulsierte bereits das Leben. Er könnte durch die Straßen laufen, wie er so oft durch Londons Straßen gelaufen war, um alles hinter sich zu lassen, Pia, Nikita, Hewitt, die ganze Entführung. Er könnte versuchen, zu vergessen und noch einmal ganz von neuem anzufangen, irgendwo, überall, vielleicht auch anderswo als in London.
    Willem blieb sitzen, stumm. Er spürte, dass die Entscheidung, jetzt aufzustehen und hinauszugehen, mehr Kraft erfordern würde, als weiterhin stumm sitzen zu bleiben.
    Er machte sich allmählich bewusst, was noch bevorstand. Früher oder später würde Nikita aufhören zu atmen. Beide, Pia und er, warteten darauf, hofften, dass es bald vorüber wäre. Dann müsste er Pia helfen, den Toten wegzuschaffen. Er wusste nicht wohin. Er wollte noch nicht darüber nachdenken. Es war auch nicht erforderlich, solange Nikita noch lebte.
    Pia stand auf, steckte ihren Kopf durch den Vorhang zum Schlafzimmer, kam zurück.
    »Er ist immer noch ruhig.«
    Willem verstand, was sie damit sagen wollte. Nikita war noch am Leben.
    Er dachte an Anne-Marie. Wie mochte sie sich in diesem Augenblick fühlen? Hewitt war tot. Das hatte er nicht gewollt. Er hatte sich Hewitt hinter Gitter gewünscht, nicht tot, ganz bestimmt nicht. Aber es war Hewitts eigene Schuld. Warum hatte er in seiner maßlosen Arroganz auf Nikita geschossen? Es war dumm von ihm, so dumm wie sein lächerlicher Fluchtversuch nach Frankreich. Warum konnte Hewitt nicht verlieren? Nur dieses eine Mal! Willem fiel ein, dass Pia ihn erschossen hatte. Woher hatte Nikita die Waffe? Warum hatte er ihr die Waffe gegeben? Er würde Pia später danach fragen. Nicht jetzt.
    Schweigend saßen sich Willem und Pia gegenüber und rauchten. Pia leerte zum wiederholten Mal den Aschenbecher, kam zurück. War da nicht ein Geräusch zu hören? Ein Stöhnen? Nikita? Willem und Pia sahen sich an. Wer würde aufstehen, um nachzusehen? – Pia. Wieder steckte sie ihren Kopf durch den Vorhang, ging dieses Mal hinein. Einige Zeit später stand sie vor ihm.
    »Nein, es ist nichts. Er ist immer noch ruhig.«
    Sie

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