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Sein Anteil

Sein Anteil

Titel: Sein Anteil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Holger Wuchold
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stammelte er.
    In Gedanken war er dabei, Pias Worte zu sammeln, zu ordnen, zu einem Sinn zu verbinden. Dann, plötzlich, war wieder sein Kopf ganz klar: Pia und Nikita hatten das Mädchen entführt. Ohne ihn. Sie hatten ihn bewusst hintergangen, ausgeschaltet. Sie hatten genau das getan, was er befürchtet, aber nicht verhindert hatte. Doch Willem spürte keinerlei Wut, nicht einmal Verärgerung. Es wäre auch sinnlos, ihr nach allem, was geschehen war, Vorwürfe zu machen. Die Entführung war vorbei. Nur ein Satz blieb stehen, ganz groß vor seinen Augen: Hewitt ist tot!
    »Will, soll ich dir etwas zur Beruhigung geben?«
    »Nein, nein. Ich bin wieder in Ordnung.«
    Er wollte jetzt nicht irgendeine Pille schlucken, nichts, was seine Wahrnehmung beeinträchtigen könnte. Willem hatte sich wieder unter Kontrolle. Um ganz sicher zu gehen, schaute er sich erneut im Zimmer um. Tisch, Bücher, Couch, Pia – alles war so, wie er erwartet hatte. Nur der zugezogene Vorhang hinter ihm fiel Willem erneut auf.
    »Und Nikita? Was ist mit Nikita?«
    Tränen begannen Pias blasse Wangen hinunterzulaufen. Sie schluchzte aber nicht. Sie sprach ganz ruhig.
    »Hewitt hat ihm in den Rücken geschossen.« Sie drehte sich seitlich zu ihm und zeigte mit dem Finger auf eine Stelle knapp über der Hüfte. »Am Anfang hatte er nur wahnsinnige Schmerzen. Er klagte aber nicht. Ich sah es aber seinem Gesicht an, dass er litt. Er sagte nur, es würde brennen. Er konnte sich allein bewegen, selbst hierher, die Treppe hinauf, ohne meine Hilfe.«
    Willem stellte sich vor, wie Nikita, schwer verletzt, seine Schmerzen unterdrückte und sich jede einzelne Stufe zu Pias Dachwohnung hinaufkämpfte.
    »Nikita ließ sich sofort aufs Bett fallen und wurde bewusstlos. Ich zog ihn vorsichtig aus und sah das Blut.« Jetzt erst schluchzte Pia. »Es war nicht einmal viel Blut und nur ein winziges Loch, fast zu übersehen. Aber es war fürchterlich, Will, ansehen zu müssen, welche Schmerzen er hatte.«
    Pia hielt ihre Hände einen Augenblick vor ihr Gesicht, atmete mehrmals tief durch, sah Willem in die Augen.
    »In der Nacht wurde er wach. Er jammerte, ja, er jammerte, Will. Nikita, mein Prachtstück, jammerte! Kannst du dir das vorstellen?« Pia unterbrach sich einen Moment. »Dann sagte er noch etwas sehr Merkwürdiges. ›Ich habe den Mund voller Erde.‹ Es waren nicht die Schmerzen, glaube ich, er sprach von seiner Angst zu sterben.«
    Willem wartete, sagte dann: »Glaubst du, dass er sterben wird?«
    »Ja, Will. Er muss sterben. Vielleicht hätte man ihm helfen können, wenn er sofort ins Krankenhaus gekommen wäre. Aber was sollte ich tun? Einen Mann mit einer Schusswunde im Krankenhaus abliefern? Nikita selbst wollte das nicht. Er sagte selbst, ich soll ihn hierher fahren. Er wusste genau, wir wären sonst verloren.«
    Wieder schluchzte Pia.
    »Kann ich ihn sehen?«
    »Gleich, Will, gleich.« Pia versuchte die Nerven zu behalten. Sie nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette. »Bevor ich bei dir anrief, stöhnte Nikita, er röchelte, stundenlang. Es war schrecklich. Ich dachte, ich werde wahnsinnig, ich halte es einfach nicht mehr aus.«
    Sie schluchzte wieder, weinte sich aus. Dann stand Pia von der Couch auf, ging durch das Zimmer und zog mit einer fast theatralischen Bewegung den mit Blumen gemusterten Vorgang beiseite.
    Auch Willem war aufgestanden, trat vorsichtig hinter Pia in das abgedunkelte Schlafzimmer. Nikita lag auf dem Rücken, Körper und Beine diagonal über das französische Bett hingestreckt, die Arme weit ausgebreitet, die rechte Hand berührte fast den Boden. Seine Hüften verdeckte ein weißes Badetuch mit Spuren von Blut. Willem konnte Nikitas Gesicht nicht richtig sehen, da es zur linken Schulter geneigt war, leicht nach unten. Er sah nur, dass die Augen halb geöffnet waren. Sie waren beinahe farblos, blutleer, ebenso seine Lippen. Wie ein Gekreuzigter lag Nikita da, dachte er, nur mit dem Kopf nach unten. Sein breiter Brustkorb hob und senkte sich, aber unregelmäßig. Jeder Atemzug brachte, ebenso unregelmäßig, einen schrecklichen Laut, eine Mischung aus Wimmern und Stöhnen und Röcheln, aus Nikitas Innerstem hervor. Die Kugel, dachte Willem, musste irgendwo in diesem großen Körper stecken.
    Er ging um das Bett herum, um Nikitas Gesicht besser sehen zu können. Er beugte sich zu ihm hinunter, kniete nieder.
    »Nikita? Nikita.«
    Willem flüsterte so leise, als ob er Angst hätte, ihn aufzuwecken. Er hatte tatsächlich

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