Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)
entdeckt – aber nicht oft. Ihre Kontakte hatten sich immer nur in dem einen Anruf zu Neujahr erschöpft. An Allan hatte Jim allerdings gedacht und ihm gelegentlich Überraschungsgeschenke geschickt.
Reeve kaufte sich eine Zeitung und eine Illustrierte und durchquerte den Duty-Free-Bereich, ohne etwas mitzunehmen. Es war Montagvormittag, was bedeutete, dass zu Hause keine wichtigen Angelegenheiten auf ihn warteten, nichts Dringendes bis Freitag mit dem nächsten Schwung an Leuten. Er wusste, dass er an etwas Anderes denken sollte, aber das war sehr schwierig. Als sein Flug aufgerufen wurde, stand er als Erster in der Schlange. Sein Sitz im Flugzeug war eng. Er legte das Kissen weg, breitete aber die dünne Decke über sich aus in der Hoffnung, etwas schlafen zu können. Kurz nach dem Start wurde das Frühstück serviert; da war er noch wach. Über den Wolken war die Sonne von einem gleißenden Orange. Dann schlossen immer mehr Leute die Fensterblenden, und die Kabinenbeleuchtung wurde gedimmt. Die Kopfhörer aufgesetzt, lehnten sich die Passagiere für den Spielfilm zurück. Gordon Reeve machte die Augen wieder zu und stellte fest, dass hinter seinen Lidern ein ganz anderer Film lief: zwei Jungen, die im hohen Gras Soldaten spielten … auf der Toilette rauchten, den Rauch aus dem Fenster pusteten … auf dem Schulfest Bemerkungen über die Mädchen austauschten … sich gegenseitig auf die Schulter klopften, als sie jeder für sich loszogen.
Sei der Übermensch, sagte Gordon Reeve zu sich. Aber andererseits war Nietzsche, wenn es um persönlichen Verlust und Trauer ging, nie so recht überzeugend. Gefährlich leben!, sagte er. In seinem Freund soll man seinen besten Feind haben. Es gibt keinen Gott, keine sittliche Weltordnung: Nun wollen wir, dass der Übermensch lebe. Sei du der Übermensch.
Gordon Reeve weinte, 30 000 Fuß über dem Meer. Dann die Wartezeit in Los Angeles und der fünfundvierzigminütige Anschlussflug mit Alaskan Airlines. Reeve war noch nie in den USA gewesen und hätte auch jetzt gern darauf verzichtet. Der Mann vom Konsulat hatte gesagt, wenn er wollte, könnte der Leichnam ohne weiteres in die Heimat überführt werden. Solange er zahlte, sei es nicht nötig, dass er in die Staaten käme. Aber er musste kommen – aus allen möglichen wirren Gründen, die wahrscheinlich niemandem außer ihm eingeleuchtet hätten. Sie leuchteten ja selbst ihm kaum ein. Es war nur ein Sog, so stark wie die Schwerkraft. Er musste mit eigenen Augen sehen, wo es passiert war, musste wissen, warum. Der Konsulatsmensch hatte gemeint, es wäre besser, es nicht zu genau zu wissen, ihn besser einfach so in Erinnerung zu behalten, wie er früher gewesen war. Aber das war nur ein Haufen Scheiße, und das hatte Reeve dem Mann auch gesagt. »Ich kannte ihn überhaupt nicht«, hatte er gesagt.
Die Typen von der Autovermietung versuchten, ihm ein Vehikel namens GM Jimmy anzudrehen, aber er lehnte es rundheraus ab und entschied sich zuletzt für einen Chevrolet Blazer – einen lackschwarzen Dreitürer mit Heckantrieb, der so aussah, als könnte er sich im Gelände gut machen. »Ein kompaktes SUV«, hatte der Klon am Schalter gemeint; was auch immer, jedenfalls hatte das Ding vier Räder und einen vollen Tank.
Er hatte ein Zimmer im Radisson in Mission Valley gebucht. Mr. Autovermietung überreichte ihm einen Gratis-Stadtplan von San Diego und kreiste den Hotel-Distrikt von Mission Valley ein.
»Wenn Sie sich auskennen, ist es eine Fahrt von zehn Minuten, andernfalls von zwanzig. Sie können das Hotel nicht verfehlen.«
Reeve verstaute seine große Reisetasche im geräumigen Gepäckraum, fand dann, dass sie dort lächerlich aussah, und stellte sie stattdessen auf den Beifahrersitz.
Vor dem Terminal stand ein Minibus mit dem Namen seines Hotels, also schloss er den Wagen ab und ging hin. Der Fahrer hatte gerade ein paar Touristen abgesetzt, und als Reeve ihm die Sachlage erklärte, sagte er, er könne ihm hinterherfahren, gar kein Problem, »Sir«.
Also hängte sich Reeve mit dem Chevrolet an den Shuttle-Bus und folgte ihm bis zum Hotel. Er holte seine Tasche heraus und sagte dem Hotelboy, er käme schon selbst damit zurecht, also fuhr der stattdessen seinen Wagen auf den Hotelparkplatz. Und wie er dann an der Rezeption stand, klappte Reeve beinah zusammen. Nerven, Schock, Schlafmangel. Einfach da auf dem dicken Teppichboden zu stehen und darauf zu warten, dass die Rezeptionistin ihr Telefongespräch beendete,
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