Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)
Bescheid, klang der Anrufer beleidigt.
Gordon Reeve hatte aufgelegt und war packen gegangen. Joan war ihm durch das ganze Haus gefolgt und hatte versucht, ihm in die Augen zu sehen. Suchte sie nach Erschütterung? Tränen? Sie stellte ihm ein paar Fragen, aber er nahm sie kaum wahr.
Dann hatte er den Schlüssel zum Geiselraum geholt und war aus dem Haus gegangen.
Der Geiselraum war ein an den Stall angebauter Raum, der normalerweise immer abgeschlossen war. Er war wie ein überfülltes Wohnzimmer eingerichtet. Drei mit abgelegten Sachen ausstaffierte Schaufensterpuppen stellten die Geiseln dar. Reeves Wochenendkrieger hatten die Aufgabe, den Raum in Zweiergruppen zu stürmen, die – von zwei weiteren Wochenendkriegern gespielten – Geiselnehmer auszuschalten und die Geiseln zu befreien. Die Geiseln durften dabei nicht zu Schaden kommen.
Reeve hatte den Geiselraum aufgeschlossen, das Licht angemacht und sich auf das Sofa gesetzt. Er sah sich um, schaute die Schaufensterpuppen an: Zwei saßen, eine stand aufrecht. Er erinnerte sich an das Wohnzimmer seiner Eltern an jenem Abend, als er das Haus – nur zu gern! – verlassen hatte, um zur Army zu gehen. Er hatte gewusst, dass Jim, sein anderthalb Jahre älterer Bruder, ihm fehlen würde. Seine Eltern würde er nicht vermissen.
Von Anfang an hatten Mutter und Vater ihr eigenes Leben geführt und von Jim und Gordon das Gleiche erwartet. Damals hatten sich die Brüder nahegestanden. Als sie heranwuchsen, wurde klar, dass Gordon der »Aktive« war, während Jim in seiner eigenen Welt lebte – er dichtete, schrieb Geschichten. Gordon nahm Judo-Unterricht; Jim würde auf die Uni gehen. Keiner der Brüder hatte den anderen je wirklich verstanden.
Reeve war aufgestanden und hatte sich der vor ihm stehenden Puppe zugewandt. Dann knallte er sie mit einem Fausthieb gegen die Wand und ging wieder hinaus.
Nachdem er sein Gepäck eingeladen hatte, war er in den Landrover eingestiegen. Joan hatte schon Grigor Mackenzie angerufen, der sich, sobald er hörte, worum es sich handelte, bereit erklärt hatte, Gordon mit seiner Fähre zum Festland zu bringen, obwohl er eigentlich schon seit Stunden Feierabend hatte.
Reeve fuhr durch die Nacht, erinnerte sich an das Telefongespräch und versuchte, dessen ungeachtet zu dem Bruder vorzudringen, den er einst gekannt hatte. Jim hatte das Studium schon nach einem Jahr geschmissen, um eine Stelle bei einer Abendzeitung in Glasgow anzutreten. Soweit Gordon wusste, hatte Jim, bis er Journalist wurde, nie ernsthaft getrunken. In der Zwischenzeit hatte Gordon selbst alle Hände voll zu tun gehabt: zwei Einsätze in Ulster, Ausbildung in Deutschland und Skandinavien … und dann der SAS.
Einmal, als er Jim zu Weihnachten wiedersah – ihr Vater war gerade gestorben und ihre Mutter baute schon deutlich ab, gerieten sie sich wegen des Krieges und der Rolle der Streitkräfte in die Haare. Sie wurden nicht handgreiflich, es blieb bei einer verbalen Auseinandersetzung. Jim war mit Worten schon immer gut gewesen.
Im folgenden Jahr war er zu einer Londoner Zeitung gewechselt und hatte sich eine Wohnung in Crouch End gekauft. Gordon war nur einmal dort gewesen, vor zwei Jahren. Mittlerweile war Jim von seiner Frau verlassen worden, und in der Wohnung herrschte das pure Chaos. Zu der Hochzeit war niemand eingeladen worden. Der zehnminütigen Zeremonie war eine dreimonatige Ehe gefolgt.
Daraufhin war Jim, beruflich wie privat, zum Alleingänger geworden, war es geblieben bis zum Schluss, als er sich eine Pistole in den Mund gesteckt und abgedrückt hatte.
Reeve hatte dem Detective aus San Diego dieses Detail geradezu abgerungen. Er wusste selbst nicht, warum es ihm so wichtig war. Fast mehr als die Tatsache von Jims Tod oder die Tatsache, dass er sich das Leben genommen hatte, war ihm die Art des Selbstmords an die Nieren gegangen. Der konfliktscheue, antimilitaristische Jim hatte eine Schusswaffe verwendet.
Abgesehen von den Zwischenstopps zum Tanken, fuhr Gordon Reeve ohne Pause bis nach Heathrow durch. Er stellte den Wagen auf einem Dauerparkplatz ab und fuhr von dort mit dem Shuttle-Bus zum Terminal. Er hatte Joan von einer Tankstelle aus angerufen: Sie hatte ihm einen Flug nach Los Angeles gebucht, von wo aus er einen Anschlussflug nach San Diego nehmen würde.
Während er in der Wartehalle saß, bemühte sich Gordon Reeve, seiner Benommenheit Herr zu werden. Von Zeit zu Zeit hatte er in der einen oder anderen Zeitung Artikel von Jim
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