Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)
– so gleichmäßig nahtlos gebräunt und mit dieser makellosen Haut -, aber hier gab’s die wie Sand am Meer. Dann schaute er in den langen Spiegel hinter dem Tresen, in dem er nicht nur sein eigenes Spiegelbild sah, sondern auch das seiner Mit-Trinker. Wem hoffte er eigentlich was vorzumachen? Lauter Fleisch gewordene Unvollkommenheiten starrten ihm entgegen. Männer – in Bier verliebte Männer – mit teigigen Gesichtern und Schmerbäuchen, fettigem schütterem Haar und so fit wie ein dreißig Jahre alter Turnschuh. Auf uns alle, dachte er, und leerte sein erstes Einmachglas.
Der Gast auf dem Nachbarhocker war anscheinend nicht in Gesprächslaune, und dem Barmädchen musste er alles zweimal sagen, da sie seinen Akzent nicht verstand. »Ich hab keinen Akzent«, erklärte James und musste auch das wiederholen. Als es also halb sieben wurde und Eddie noch immer nicht aufgetaucht war, spielte er mit dem Gedanken, ihn anzurufen. Schließlich war er Eddies Arbeitgeber, und Eddies Job war, ihn herumzuchauffieren. Aber das kam ihm dann doch unfair vor. Was Eddie von ihm bekam, waren Peanuts, und der Typ stand ihm ohnehin praktisch den ganzen Tag zur Verfügung – auch wenn er so langsam den Verdacht hatte, dass Eddie nur deswegen so anhänglich war, weil er hoffte, dadurch ein paar Drinks und vielleicht sogar ein Abendessen spendiert zu bekommen.
Er hatte keinen Hunger. Er hatte von allem genug. Er wollte nur noch in sein schäbiges Motel zurück und mindestens zwölf Stunden durchschlafen. Er bat das Barmädchen, ihm ein Taxi zu rufen, und bemühte sich, das Wort möglichst so kalifornisch auszusprechen, dass sie ihn auch verstehen würde.
»Klar«, sagte sie.
Dann beschloss der schweigsame Gast neben ihm, dass es auch für ihn Zeit war. Er verließ die Bar, ohne ein Wort zu sagen, allerdings mit einem Nicken in James’ ungefähre Richtung, und nachdem er ein paar Dollar für die Bedienung auf dem Tresen gelassen hatte, was ziemlich großzügig war. Sobald sie ihm den Rücken gekehrt hatte, um den Anruf zu machen, zog James einen der Dollarscheine zu sich herüber und ließ ihn auf dem Tresen liegen. Es waren harte Zeiten.
Eine Minute später steckte der Taxifahrer den Kopf durch die Tür.
»Mr. Reeve!«, rief er und verschwand dann wieder. James Reeve glitt von seinem Barhocker und sagte »Bis dann!« in die Runde. Er hatte nur vier Bier getrunken und fühlte sich gut – vielleicht ein bisschen niedergeschlagen, als er seinen Laptop aufhob, aber er hatte sich schon weit schlimmer gefühlt. Er würde aus der Story was machen, etwas Bleibendes, etwas Unsterbliches. Er brauchte lediglich ein bisschen mehr Geld und jede Menge mehr Zeit. Er konnte die Sache nicht einfach vergessen – zumal sie die ganze gottverdammte Welt betraf.
Draußen vor der Tür standen ein paar Bettler, aber er schlüpfte an ihnen vorbei. Eigentlich ließen sie ihn meist in Ruhe. Sie sahen auf den ersten Blick, dass es bessere Optionen gab, blass und schlaksig wie er war. Der Taxifahrer hielt ihm schon die hintere Tür auf. Das Taxi, fiel ihm beim Einsteigen auf, sah eigentlich wie ein ganz normales Auto aus. Und dann fiel ihm noch etwas Anderes auf, nur ein bisschen zu spät.
Er hatte der Bardame seinen Namen gar nicht genannt.
Wie kam es also, dass der Fahrer ihn wusste?
Zweiter Teil
Geister
4
Während er nach Süden fuhr, versuchte Gordon Reeve, sich an seinen Bruder zu erinnern, aber der Anruf drängte sich immer wieder in seine Gedanken.
Er hörte wieder die Stimme der Vermittlung, die ihm sagte, da wäre ein Anruf vom San Diego Police Department, dann die Stimme des Detectives, die ihm erklärte, es ginge um seinen Bruder.
»Sehr bedauerliche Sache, Sir.« Die Stimme hatte keinerlei Regung verraten. »Wie es aussieht, hat er sich das Leben genommen.«
Das war nicht alles gewesen, aber fast. Der Detective hatte gefragt, ob er »den Leichnam und die Hinterlassenschaften« abzuholen gedenke. Gordon Reeve hatte ja gesagt, natürlich. Dann hatte er aufgelegt, und es hatte noch einmal geklingelt. Diesmal hatte er langsamer reagiert. Joan hatte neben ihm gestanden. Er erinnerte sich an den Ausdruck in ihrem Gesicht, eine Mischung aus plötzlichem Schock und Verständnislosigkeit. Nicht, dass sie Jim gut gekannt hätte; in den letzten paar Jahren hatte er sich nicht gerade oft blicken lassen.
Der zweite Anruf kam vom britischen Konsulat und wiederholte lediglich die Mitteilung. Als Reeve dem Mann sagte, er wisse bereits
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