Sein Blut soll fließen: Thriller (German Edition)
entspannte Heiterkeit von Tagungsteilnehmern zur Schau. Reeve trank aus, unterschrieb die Rechnung und ging dann hinauf in sein Zimmer.
Nur fühlte er sich darin inzwischen nicht so sehr wie in einem Zimmer; eher wie in einer Zelle.
7
Am nächsten Tag sah Gordon Reeve den Geist.
Vielleicht war das unter den gegebenen Umständen nicht weiter verwunderlich. Es war in vielfacher Hinsicht ein merkwürdiger Tag. Direkt nach dem Aufwachen packte Reeve seine Sachen zusammen und ging dann nach unten frühstücken. Er war der einzige Gast im Restaurant. Frühstück gab es wieder vom Büffet. Es roch nach Speck und Bratwürstchen. Er setzte sich in seine Nische und trank Orangensaft und eine einzige Tasse Kaffee. Er trug seinen dunklen Anzug, schwarze Socken und Schuhe, ein weißes Hemd, einen schwarzen Schlips. Niemand vom Hotelpersonal schien auf die Idee zu kommen, dass er auf dem Weg zu einer Trauerfeier sein könnte – alle lächelten ihn so an wie immer. Dann begriff er, dass sie ihn gar nicht anlächelten – sie lächelten durch ihn hindurch .
Er holte seine Reisetasche aus dem Zimmer und bezahlte die Rechnung mit seiner Kreditkarte.
»Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Aufenthalt, Mr. Reeve«, sagte die Lächelmaschine. Reeve ging mit seiner Tasche nach draußen. Im Foyer war kein Beschatter zu sehen gewesen, also würde draußen jemand auf ihn warten, vielleicht auf dem Parkplatz. Und tatsächlich, als er sich seinem Wagen näherte, öffnete sich drei Buchten weiter eine Autotür.
»Hey, Gordon.«
Es war McCluskey. Er trug ebenfalls einen dunklen Anzug.
»Was gibt’s?«, fragte Reeve.
»Nichts. Ich dachte nur, Sie könnten vielleicht Schwierigkeiten haben, den Weg zum … ich dachte, Sie könnten mir einfach hinterherfahren. Was sagen Sie dazu?«
Was konnte er schon sagen – ich glaube, Sie lügen? Ich glaube, Sie haben irgendeine krumme Tour vor? Und ich glaube, Sie wissen , dass ich das glaube?
»Okay, danke«, sagte Reeve und schloss den Chevrolet auf.
Während der Fahrt lächelte er. Sie beschatteten ihn jetzt von vorn, beschatteten ihn mit seinem ausdrücklichen Einverständnis. Ihn störte es nicht, warum hätte es ihn stören sollen? Er hatte hier in San Diego – fürs Erste – fast alles erledigt. Jetzt brauchte er etwas Abstand. Ein guter Soldat hätte vielleicht von einem » sicheren Abstand« gesprochen. Es war ein perfektes Manöver: den Eindruck erwecken, dass man den Rückzug antrat, während man in Wirklichkeit angriff. Er wusste, dass er in San Diego nicht mehr viel in Erfahrung bringen würde, ohne seine Deckung völlig auffliegen zu lassen. Es war höchste Zeit, die Zelte abzubrechen. Bei den Special Forces hatte man ihm viel beigebracht, genug für ein ganzes Leben; und wie der alte Nietzsche sagte: »Man vergilt einem Lehrer schlecht, wenn man immer nur der Schüler bleibt.«
Irgendjemand hatte die SAS-Trooper irgendwo einmal als »Nietzsches Gentlemen« tituliert. Das traf die Sache ganz und gar nicht: Bei den Special Forces verließ man sich ebenso sehr auf die anderen wie auf sich selbst. Man arbeitete in einem kleinen Team und musste absolutes Vertrauen in die Fähigkeiten der anderen haben. Man teilte sich die anstehende Arbeit. Was einen eigentlich eher zum Anarchisten machte. In den Special Forces wurde der Dienstrang weit weniger herausgekehrt als in anderen Regimentern – Offiziere wurden mit Vornamen angeredet. Das Bewusstsein, eine Gemeinschaft zu sein, war ebenso stark ausgeprägt wie das Gefühl des eigenen, individuellen Wertes. Reeve wägte noch immer seine Optionen ab. Er konnte allein arbeiten oder jemanden zu Hilfe rufen. Leute, die er niemals außer in einem wirklichen Notfall rufen würde, ebenso wie sie wussten, dass sie gegebenenfalls ihn um Hilfe bitten konnten.
Er wusste, dass er in diesem Moment eigentlich an Jim hätte denken sollen, aber er hatte in den letzten Tagen sehr viel an Jim gedacht, und er konnte sich nicht vorstellen, dass ein, zwei Stunden mehr da noch groß was geändert hätten. Es war nicht so, dass er es geschafft hätte, sich von der Realität der Situation – sein Bruder war tot, vielleicht das Opfer eines Mordes, mit Sicherheit Mittelpunkt einer Vertuschungsaktion – loszulösen; aber er hatte diese Tatsache so vollständig akzeptiert, dass er jetzt imstande war, an andere Dinge zu denken. Mr. Kalter Rationalist in Person. Er hoffte, er würde bei der Einäscherung nicht die Nerven verlieren. Er hoffte, er würde den Drang
Weitere Kostenlose Bücher