Sein Bruder Kain
vertraut gemacht und auch die Geschichte von Calebs Verhaftung gehört hatte. »Hat es denn überhaupt Sinn, ihn vor Gericht zu bringen? Ja, haben wir bei Lichte betrachtet überhaupt genug Beweise für eine Anklage?«
Rathbone dachte eine Weile darüber nach, bevor er antwortete. Es war ein selten schöner, heller Wintertag, und die Sonne schien durch die langen Fenster.
»Ich verfüge über gewisse Kenntnisse bezüglich dieses Falles«, sagte er nachdenklich, während er seine Beine übereinanderschlug und die Fingerspitzen aneinanderlegte.
»Monk hat mich vor einiger Zeit aufgesucht, um sich zu erkundigen, was notwendig sei, um einen Mann für tot erklären zu lassen. Er handelte im Auftrag von Mrs. Stonefield.«
Der Staatsanwalt zog die Augenbrauen hoch. »Interessant«, murmelte er.
»Eigentlich nicht«, erwiderte Rathbone. »Die arme Frau war innerlich davon überzeugt, daß ihr Mann von seinem Bruder getötet wurde, und verständlicherweise wollte sie sich in eine Position bringen, in der es ihr möglich war, jemanden einzustellen, der das Geschäft weiterführte, bevor es durch Stonefields Abwesenheit ernsten Schaden nahm.«
»Also, was wissen Sie, das uns in diesem Fall weiterbringen könnte?« Der Staatsanwalt lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah Rathbone mit ruhigem Blick an. »Ich bin geneigt zu glauben, daß Stone seinen Bruder getötet hat. Ich würde ihn nur allzugern dafür zur Rechenschaft ziehen, aber der Teufel soll mich holen, wenn ich einen Fall vor Gericht bringe, den wir nicht gewinnen können; das einzige, was dann passiert, ist, daß der widerwärtige Kerl wie ein Unschuldslamm dasteht und wir uns zum Gespött der Leute machen.«
»Ja, tatsächlich«, stimmte Rathbone ihm von ganzem Herzen zu. »Es wäre gräßlich, ihn wegen Mangels an Beweisen freisprechen zu müssen. Wenn dann die Leiche irgendwann auftaucht und wir einen Beweis für seine Schuld haben, könnten wir nicht mehr das geringste in dieser Angelegenheit unternehmen. Das ist das Schlimme - wir haben nur einen Schuß frei. Er muß ins Schwarze treffen, denn eine zweite Chance gibt es nicht.«
»Wenn man bedenkt, daß die beiden Männer als Kinder Mündel von Lord Ravensbrook waren, könnte es sein, daß der Fall einige Aufmerksamkeit erregt«, fuhr der Staatsanwalt fort.
»Trotz der höchst schändlichen Art und Weise, wie Stone derzeit lebt. Es wird interessant sein zu sehen, wer ihn verteidigt.« Er seufzte. »Falls sich die Notwendigkeit für eine Verteidigung ergibt.«
»Der elende Kerl hat zugegeben, seinen Bruder getötet zu haben«, sagte Rathbone grimmig. »Hat sogar damit geprahlt.«
»Es wird trotzdem eine sehr knappe Sache. Wir haben keine Leiche, keinen endgültigen Beweis für den Tod des Bruders…«
»Aber jede Menge Indizien«, wandte Rathbone ein und beugte sich vor. »Man hat sie am Tag von Stonefields Verschwinden zusammen gesehen, hat sogar beobachtet, wie sie sich stritten. Stonefields zerrissene und blutbefleckte Kleider sind gefunden worden, und niemand hat ihn seither wieder zu Gesicht bekommen.«
Der Staatsanwalt schüttelte den Kopf. »Trotzdem ist es möglich, daß er irgendwo steckt - gesund und munter!«
»Wo?« wollte Rathbone wissen. »Vielleicht ist er auf ein Schiff gegangen und nach China oder Indien gesegelt?«
»Oder nach Amerika?«
»Aber von einem Kai am Londoner Hafen flußabwärts zu welcher Zeit?« argumentierte Rathbone. »Wenn er nach Amerika wollte, wäre es sinnvoller gewesen, in Liverpool oder Southampton ein Schiff zu nehmen. Und da wir gerade dabei sind, wann wurde er zuletzt gesehen? War das bei Ebbe oder bei Flut? Bei Flut könnte er kein Schiff bestiegen haben, es sei denn, er hätte wieder nach London gewollt. Und warum sollte er das tun? Er hatte nichts zu gewinnen und alles zu verlieren.« Er lehnte sich wieder auf seinem Stuhl zurück. »Nein. Sie werden die Geschworenen niemals davon überzeugen können, daß er einfach die Flucht ergriffen hat. Wovor? Er hatte keine Schulden, keine Feinde, keine Probleme wegen eines Skandals oder etwas in der Art. Nein, er ist tot, der arme Teufel. Wahrscheinlich begraben in einem der Gemeinschaftsgräber der Typhusopfer in Limehouse.«
»Dann beweisen Sie es«, sagte der Staatsanwalt grimmig.
»Wenn Calebs Rechtsanwalt sein Geld wert ist, steht Ihnen eine schwierige Aufgabe bevor, Rathbone, eine sehr schwierige Aufgabe. Aber ich wünsche Ihnen viel Glück.«
Als Rathbone in die Vere Street zurückkehrte, wartete
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