Sein Bruder Kain
Monk dort bereits auf ihn. Er sah mitgenommen aus. Seine Kleidung war so tadellos wie immer, und er war frisch rasiert, aber sein Gesicht wirkte abgehärmt, als litte er an einer Krankheit oder hätte nicht geschlafen. Als er aufstand, um Rathbone, ohne auf dessen Erlaubnis zu warten, in sein Büro zu folgen, bewegte er sich, als befände er sich im letzten Stadium von Rheumatismus. Rathbone hatte, was diesen Mann betraf, sehr zwiespältige Gefühle, aber er hatte ihm niemals etwas Böses gewünscht…
Etwas Mäßigung, was Arroganz und Selbstüberschätzung betraf, vielleicht, aber nicht das hier. Es ging ihm stärker unter die Haut, als er erwartet hatte.
»Schließen Sie die Tür«, bemerkte er überflüssigerweise. Monk war gerade dabei, eben dies zu tun, und blieb einen Augenblick davor stehen, um Rathbone zuzusehen, wie dieser um den Schreibtisch herumging und dahinter Platz nahm. »Sie haben Caleb Stone, ich weiß. Ich komme gerade aus dem Büro des Anwalts der Krone. Es würde uns sehr helfen, wenn wir mehr Beweise hätten.«
»Das weiß ich!« sagte Monk heftig, während er sich von der Tür entfernte und unter offensichtlichen Schmerzen auf dem Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches Platz nahm.
»Vielleicht rafft die Polizei sich jetzt ja zu einer ordnungsgemäßen Suche auf und findet den Leichnam. Ich schätze, sie werden weiter den Fluß in Augenschein nehmen. Das ist etwas, das ich mit den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, kaum selbst tun könnte. Obwohl sie, nachdem soviel Zeit vergangen ist, schon Glück haben müssen, um überhaupt etwas zu finden. Und sie können natürlich die Greenwich und Bugsby-Sümpfe durchkämmen. Für jemanden von Angus Stonefield Ansehen würde es sich ihrer Meinung nach wahrscheinlich lohnen.«
»Sie könnten es auch lohnend finden, einen Schuldspruch zu erwirken, jetzt, da sie eine Verhaftung vorgenommen haben«, sagte Rathbone mit dem Anflug eines Lächelns. »Sie haben sich schon ziemlich weit vorgewagt. Es würde ihnen gar nicht gefallen, Caleb Stone wieder freilassen zu müssen. Er würde für jeden Schurken von Wapping bis nach Woolwich als Held dastehen. Aber das wissen Sie ja besser als ich.«
»Was hält er von der ganzen Sache?«
»Der Anwalt der Krone?« Rathbone hob die Augenbrauen.
»Eine Chance, aber er ist nicht besonders optimistisch. Wie wär's mit einer Tasse Tee? Sie… sehen…« Er zögerte, weil er nicht wußte, wie deutlich er werden konnte.
»Nein - ja.« Monk zuckte die Achseln. »Tee hilft mir auch nicht weiter.« Er machte Anstalten, sich zu erheben, schien zu unruhig, noch länger zu warten, aber andererseits fiel jede Bewegung ihm so schwer, daß er sich doch wieder auf den Stuhl fallen ließ.
»War es eine harte Verfolgungsjagd?« fragte Rathbone mit einem trockenen Lächeln.
Monk zuckte zusammen. »Sehr.«
Rathbone zog an der Klingelschnur, und als der Sekretär erschien, bestellte er Tee.
»Ich hätte gern eine Tasse, auch wenn Sie keinen wollen. So, jetzt erzählen Sie mir, weshalb Sie hier sind. Sie sind doch sicher nicht gekommen, um von mir zu hören, wie der Staatsanwalt den Fall einschätzt.«
»Nein«, stimmte Monk ihm zu, sprach dann aber nicht weiter. Rathbone spürte, wie ihm innerlich kalt wurde. Es mußte schon etwas sehr Schlimmes passiert sein, um Monk so zu treffen. Er hatte in zwanzig Minuten seinen nächsten Termin. Er konnte sich keine Verzögerung leisten, und doch wußte er, daß Ungeduld taktlos gewesen wäre, und er wollte die Last des anderen Mannes, worin sie auch immer bestehen mochte, nicht noch vergrößern.
Vielleicht spürte Monk die Ruhelosigkeit seines Gegenübers. Er blickte plötzlich auf, als hätte er einen Beschluß gefaßt. Sein Kiefer verkrampfte sich, und ein Muskel an seiner Schläfe zuckte. Die Worte kamen mit einer angespannten, gleichmäßigen und sorgsam kontrollierten Monotonie über seine Lippen, als wage er es nicht, irgendwelche Gefühle durchscheinen zu lassen, weil ihm dann alles entglitten wäre.
»Ich habe vor einiger Zeit die Bekanntschaft einer Frau gemacht, ganz zufällig auf der Treppe der Geographischen Gesellschaft in der Sackville Street. Wir haben uns näher kennengelernt, und ich habe sie danach mehrere Male getroffen. Sie war charmant, intelligent, voller Witz und Begeisterungsfähigkeit.« Seine Stimme war noch immer ausdruckslos und konzentriert. »Sie hat auch Interesse am Fall Stonefield bekundet - ich war ja gerade auf der Suche nach einer Spur
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