Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sein Bruder Kain

Sein Bruder Kain

Titel: Sein Bruder Kain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
Sie weiter quäle, aber bitte bleiben Sie, wo Sie sind, für den Fall, daß mein gelehrter Freund von der Verteidigung mit Ihnen zu sprechen wünscht.« Er lächelte ihr zu und begegnete ihrem bemerkenswert ruhigen Blick für eine Sekunde, bevor er an seinen Platz zurückkehrte.
    Ebenezer Goode erhob sich und lächelte sie mit verwirrendem Wohlwollen an. Er näherte sich beinahe unterwürfig dem Zeugenstand. Ein Raunen ging durch den Saal. Nur Caleb schien sich nicht für das jetzt Folgende zu interessieren. Er vermied es, Goode anzusehen.
    »Mrs. Stonefield«, begann Goode, und seine Stimme klang voll und einschmeichelnd. »Es tut mir aufrichtig leid, Sie diesem Martyrium unterwerfen zu müssen, aber Sie verstehen sicher, daß es, sosehr wir alle mit Ihnen fühlen, meine Pflicht ist, gerade die meine, dafür zu sorgen, daß wir die Sache nicht dadurch beilegen, indem wir jemandem die Verantwortung aufbürden, der nicht wirklich schuldig ist. Ich bin sicher, das verstehen Sie.« Er hob hoffnungsvoll die Augenbrauen.
    »Ja, ich verstehe«, antwortete sie.
    »Natürlich tun Sie das. Sie sind eine großzügige Frau.« Er steckte die Hände in die Taschen und blickte zu ihr auf. Er lächelte immer noch. »Ich zweifle nicht daran, daß die Beziehung zwischen Ihrem Mann und seinem Bruder sehr schwierig war und daß sie gelegentlich Streit hatten. Alles andere wäre auch merkwürdig gewesen, da ihr Leben in so verschiedenen Bahnen verlief.« Er nahm die Hände aus den Taschen und benutzte sie zur Unterstreichung seiner Worte. »Ihr Mann hatte alles, was das Leben bieten kann: eine schöne und tugendhafte Frau, fünf gesunde Kinder, ein gepflegtes, behagliches Heim, in das er jeden Abend zurückkehren konnte, ein einträgliches Geschäft und die Wertschätzung, ja sogar die Freundschaft der Welt, sowohl in gesellschaftlicher als auch in beruflicher Hinsicht.«
    Er schüttelte den Kopf und schürzte die Lippen. »Wogegen der arme Caleb, aus welchen Gründen auch immer, nichts von alledem sein eigen nennt. Er hat keine Frau und keine Kinder. Er schläft, wo er gerade vor Kälte und Regen Schutz finden kann. Er ißt zu unregelmäßigen Zeiten. Er besitzt kaum mehr als die Kleider, die er am Leib trägt. Er verdient sich seinen Lebensunterhalt, wo er kann, und nur allzuoft mit Dingen, die andere Männer verachten würden. Und tatsächlich stößt er bei den Menschen auf Widerwillen und Ablehnung, und viele, das will ich zugeben, fürchten ihn, wie es vielleicht häufig Menschen widerfährt, die die Umstände zu verzweifelten Handlungen treiben.« Er lächelte den Geschworenen zu. »Ich werde nicht versuchen, ihn als bewundernswerten Mann darzustellen, nur als einen, der vielleicht zu Recht unser Mitleid verdient und dessen gelegentlicher Groll und Zorn auf seinen vom Glück begünstigten Bruder möglicherweise doch unser Verständnis finden kann.«
    Er wandte sich ein wenig zur Seite, um die Zuschauer anzusehen. Dann fuhr er wieder herum und heftete seinen Blick erneut auf Genevieve: »Aber, Mrs. Stonefield, Sie sagen, daß Ihr Mann von diesen Besuchen im East End, vielleicht auch in Limehouse oder auf der Isle of Dogs, mit Prellungen und Schürfwunden manchmal sogar mit ernsten Verletzungen zurückkehrte. Das haben Sie doch gesagt, oder?«
    »Ja.« Sie war verwirrt und auf der Hut.
    »Als sei er in einen Streit verwickelt gewesen, vielleicht in einen ziemlich ernsten? So jedenfalls habe ich Sie verstanden. Ist das korrekt?«
    »Ja.« Ihr Blick hätte sich beinahe zu Caleb hinüber verirrt, aber dann schaute sie schnell wieder geradeaus.
    »Hat er ausdrücklich gesagt, daß Caleb ihm diese Verletzungen beigebracht habe, Mrs. Stonefield?« bedrängte Goode sie. »Bitte, denken Sie genau nach, und antworten Sie präzise.«
    Sie schluckte und schaute zu Rathbone hinüber, der seinen Blick bewußt abwandte. Er durfte sich nicht dabei erwischen lassen, wie er ihr irgend etwas signalisierte. Sie mußte allein entscheiden, absolut allein, wenn ihre Aussage volles Gewicht haben sollte.
    »Mrs. Stonefield?« Goode war ungeduldig.
    »Es war doch Caleb, den er besucht hat!« protestierte sie.
    »Natürlich war er es. Ich hatte auch keine anderen Möglichkeiten in Erwägung gezogen«, räumte Goode ein, wobei er auf diese Weise dafür sorgte, daß den Geschworenen klar war, daß es solche anderen Möglichkeiten durchaus gab. »Wir wollen sie nicht einmal erwähnen, zumindest nicht für den Augenblick. Aber hat er gesagt, daß Caleb ihm die

Weitere Kostenlose Bücher